England und Europa
Was den Brexit auslösen konnte
 
Heute morgen erhielt ich eine entsetzte E-mail aus England, in der der Rückfall zum Nationalismus, die Unredlichkeit der Protagonisten und die Folgen der Entscheidung für den Austritt Englands aus der Europäischen Gemeinschaft beklagt wurden.
Rückblickend fragt man sich allerdings, wie man erwarten konnte, dass in England die rechten Strömungen, die in ganz Europa zu spüren sind, nicht zum Zuge kommen könnten. Und es waren ja vor allem Rechte (UKIP), die in England auf nationalistische Gefühle und vielversprechende Lügen (350 Millionen Pfund für das öffentliche Gesundheitswesen, statt an die EU zu zahlen) setzten.
Genau so war unrealistisch zu erwarten, dass die englischen Medien - vor allem die Boulevard-Medien - diese Unwahrheiten entlarven und statt auf Gefühle auf Vernunft setzen würden. Die Qualität der Medien hat ja in vielen Ländern erheblich gelitten, seit privatwirtschaftliche Medien die Balance gegenüber den Öffentlich Rechtlichen (in England BBC, in Deutschland ARD, ZDF und Deutschlandradio) zu ihren Gunsten verschieben konnten.
Die ursprüngliche Idee war ja, dass die Öffentlich Rechtlichen durch ihre Finanzierung in der Lage sein sollten einen hochwertigen Journalismus zu bieten, der für die privaten Medien als Messlatte dienen sollte. Dafür hatten sich die Öffentlich Rechtlichen bei der Bewertung der Fakten zu mäßigen, während die privaten Medien durchaus Einzelinteressen vertreten durften, z.B. Parteipresse, Kirchenblätter, oder Anzeigenblätter, bei denen vor allem der kommerzielle Erfolg wichtig war.
Dieser Niedergang der Medienqualität dadurch, dass die Politik die Messlatte Qualität durch die Messlatten Auflage und Einschaltquote ersetzte und die Medien diese aus der Privatwirtschaft stammenden Kriterien weitgehend übernahmen, führte dazu, dass nicht mehr ethische und moralische Überlegungen, oder die Verantwortung der Medienmacher gegenüber ihren Endverbrauchern darüber bestimmten, was gemeldet wurde, sondern der emotionale Gehalt der Nachrichten, als das was beim Endverbraucher Empörung oder Interesse auslöst, zum Maß aller Dinge wurden.
Damit wurde der Auftrag der Öffentlich Rechtlichen ausgehöhlt und in manchen Ländern auf deren Abschaffung hin gearbeitet. Das geschieht auch in England und beeinflusst die Diskussionskultur im ganzen Land. Gefühle zählen mehr als Argumente. Populismus, statt demokratischer Güterabwägung ist die Folge.
Verstärkt wurde das durch das Internet und sogenannte Soziale Medien, die keinerlei qualitativen Kontrolle unterliegen und damit ein Tummelplatz für ungeprüfte Gerüchte und Meinungen sind. Auch das spielt nicht nur in England eine Rolle, aber es zeigt, welche Wirkung die oft gepriesene (von wem wohl) Digitalisierung des Alltags führen kann.
Dass hinter einem Drittel der Brexit-Befürworter im Netz gar keine Menschen standen, sonder Software-Roboter, spricht ebenfalls Bände. Wie gefährlich das Netz für die politische Kultur sein kann, zeigte sich ja, als ein virtueller Gesprächspartner ins Netz gestellt wurde und nach einem Tag abgeschaltet werden musste, weil er innerhalb dieser kurzen Zeit durch die Einflüsse der Nutzer zum Rechtsradikalen geworden war.
1. Ergebnis: Versagen von Medien und Missbrauch des Netzes
Die Auseinandersetzung um den Brexit hat gezeigt, dass es in England (und anderen Ländern) offenbar ein Versagen der Medien und einen Missbrauch des Internets gibt. Politische Manipulationen werden nicht mehr als solche erkannt und bekämpft.
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Medienversagen und mangelnde politische Streitkultur haben es Populisten leicht gemacht die Unzufriedenen, die Armen und Abgehängten für sich zu gewinnen, die sich von den politischen Akteuren (nicht nur in England) längst nicht mehr vertreten fühlen.
Dahinter steckt weltweit das Problem der wachsenden Ungleichheit, die die Reichen immer reicher und die Armen immer zahlreicher macht. Wenn man den Sandhaufen in einer Sanduhr betrachtet, dann hat er ungefähr den Querschnitt eines Dreiecks. Wird die Sanduhr bewegt, dann sorgen die Erschütterungen dafür, dass aus der Dreiecksspitze eine abgerundete Hügelkuppe wird, die ungefähr dem entspricht, was man die Gauss'sche Normalverteilungskurve nennt.
Diese Verteilung findet man in ganz vielen Bereichen. Zum Beispiel gibt es einige wenige, die sehr schnell laufen können, die Mehrzahl läuft mit mittlerem Tempo und einige wenige sind besonders langsam.
Ganz ähnlich müsste eigentlich der Wohlstand verteilt sein, also einige wenige, die arm sind, einige wenige, die sehr reich sind und in der Mitte der große Berg jener, die auf Grund ihrer durchschnittlichen Fähigkeiten mittlere Einkommen haben. Statt dessen ist Wohlstand heute bei einigen wenigen angesiedelt, die aber so viel besitzen, dass der Rest zwangsläufig verarmt. In Deutschland besaßen 2014 die reichsten 10% der Bürger 66 % aller Güter des Landes. Für die übrigen 90% blieben damit nur 34% übrig.
Dabei sind die wirklichen Verhältnisse noch krasser, weil die wirklich Superreichen aus der Statistik fallen, weil man die höchsten Einkommen sonst Personen zuordnen könnte, was ein Verstoß gegen den Datenschutz wäre. Statt der Normalverteilung (Sandhaufen) erinnert die heutige Kurve an den Fuß einer steil aufragenden Felswand, der durch abgebröseltes Gestein in einer sanften Kurve in die Ebene übergeht. In manchen Ländern tendiert die Kurve auch zum umgekehrten S mit einigen sehr armen Obdachlosen, dann einem verarmten Mittelstand und auf der anderen Seite einigen wenigen sehr Reichen.
Eine derartig ungerechte, weil nicht an den Fähigkeiten der Menschen orientierte, Verteilung von Wohlstand und Armut ist für jede Gesellschaft brandgefährlich, weil in den meisten Gesellschaften der Besitz auch mit Macht gekoppelt ist. Damit wird die Demokratie durch die Hintertür zu Gunsten von Oligarchie (Herrschaft einiger weniger (Reicher)) abgeschafft. Bei vielen Bürgern stellt sich durch Ungerechtigkeit und Machtverschiebung ein Gefühl der Ohnmacht ein. Sie haben den Eindruck, dass die Verhältnisse sich zu ihren Lasten verändern und die Politik sie nicht schützt.
2.Ergebnis: Ungerechte Besitzverteilung beschädigt Demokratie
Dabei hat in England der Niedergang der Kohlenminen und der Montan-Industrie, der von Seiten der Regierung Thatcher in den 1980er Jahren rigoros voran getrieben wurde bis heute Wunden hinterlassen. Es ging der Regierung vor allem um die Entmachtung der Gewerkschaften. Der Kampf gegen sie und die Kumpels führt 1984/5 zu einem einjährigen Streik in Schottland und kostete rund 6 Milliarden, also fast das 60-fache des Verlustes der Minen in diesem Jahr. Mit den Minen brachen auch sehr viele andere industrielle Arbeitsplätze (z.B. Metallindustrie, Werften, Motor-Hersteller, Maschinenbau, Fahrzeugbau) weg, so dass die Kumpels keine Chance hatten andere Arbeit zu finden. Dies führte zur Verelendung ganzer Regionen.
Der Niedergang der Montan-Industrie fand zwar europaweit statt, aber in Deutschland etwa wurde dafür gesorgt, dass der Übergang sanfter ablief und die Kumpels Chancen auf neue Arbeitsplätze bekamen.
Das nötige Geld wäre in England da gewesen,
aber diese Steuergelder wurden eingesetzt um den Bürgern bestehende Rechte zu entziehen. Ein konservativer Politiker nannte es später selbst: "Klassenkampf von oben".
Kein Wunder, wenn in England viele kleine Leute der Regierung auch auf Grund dieser Erfahrung nicht trauen und einem England nachtrauern, das in der Erinnerung gerechter und glorreicher zu sein scheint. Wenn aber der Bürger den Regierenden nicht mehr vertraut, dass sie das Wohl aller Bürger und des Landes im Auge haben und nicht nur ihre Macht und ihre Privilegien, dann ist dieser Vertrauensverlust für die Demokratie sehr gefährlich, weil an die Stelle des notwendigen Vertrauens Misstrauen trat, dass gemeinsame Anstrengungen und gemeinsames Vorgehen beinahe unmöglich machen.
3. Ergebnis: Wenn erhebliche Teile der Bevölkerung nicht mehr glauben, dass die Regierenden nach "bestem Wissen und Gewissen" handeln, dann fehlt die Basis für eine Vertrauens-volle Zusammenarbeit im Land.
Und:
4. Vertrauen wächst sehr langsam!
Hinzu kommt, dass die Regierungen seit Frau Thatcher durch Neoliberalismus und verschiedene Gesetze an den sowieso schon Armen gespart haben, egal, ob es um das Gesundheitssystem geht, oder um die Fürsorge für Alte und Arme. Wer sich im Lande umsieht, sieht sehr viel echte Armut und viele Organisationen, die versuchen die größte Not zu lindern, indem sie fast alles, was andere nicht mehr gebrauchen können oder wollen in kleinen Läden an Bedürftige weiter geben. Das fängt bei Taschen oder Kleidung an und geht bis zu angebrochenen Körperpflegemitteln oder Schminke.
Wer aber so ausgegrenzt wird, dass er am sozialen Leben seines Heimatortes kaum teilnehmen kann, oder gar keine Heimat mehr hat und in Bauwagen oder Bretterverschlägen haust, der hat einerseits nichts zu verlieren und wünscht sich einen radikalen Wandel zum Besseren. Solche Menschen sind aber auch abgeschnitten von den Diskussionen zuhause oder im Pub, wo sie vielleicht mäßigende Argumente zu hören bekämen und ihre Wahlentscheidung noch mal überdenken würden.
5. Ab einer gewissen Schwelle schließt Armut von sozialen Leben aus und verhindert, dass man Zugang zu Argumenten hat, die erwägenswert wären. Stattdessen folgt man seiner Enttäuschung und Wut darüber, dass einen diese Gesellschaft in die Ecke stellt und abwertet.
 
Das Bild oben zeigt eine prächtige Dampflokomotive, die einen historischen Zug für betuchte Touristen zieht. Ein Symbol für die großartige Vergangenheit des Englischen Eisenbahnbaues (eben auch das Montan-Zeitalter), für Mobilität, aber eben auch für die gesellschaftliche Spaltung in Reiche, die sich so ein Erlebnis leisten können und Arme, die es nicht mal auf den Bahnsteig schaffen, weil dafür eine Fahrkarte erforderlich ist. Dabei ermöglichen diejenigen Wohlhabenden, die solche Reisen bezahlen, auch den Erhalt solcher historischen Fahrzeuge.
 
Carl-Josef Kutzbach
Freitag, 24. Juni 2016