Amok und Terror
Mitverantwortung der Medien?
 
Gestern wurde in vielen Medien ausführlich und ausgiebig über den Amoklauf (nach bisheriger Kenntnis) von München berichtet, so ähnlich, wie vorher über Würzburg, Nizza und andere Ereignisse.
Ich frage mich ob das verantwortungsbewusster Journalismus ist.
Zunächst scheint alles klar: Journalisten haben zu berichten, was geschieht.
Aber sobald man weiß, dass die Berichterstattung über
Selbsttötungen (aber auch deren Miterleben) weitere Selbsttötungen nach sich zieht, wie das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim schon vor vielen Jahren erkannte (und dann das ZDF bat einen Film nicht wieder auszustrahlen, der obwohl die Selbsttötung nicht gezeigt wurde, Nachfolgetaten hervorrief). Auch Studien aus den USA und anderen Ländern belegen das. Und dann kommt man ins Grübeln. Das Tabu "über Selbsttötung spricht man nicht" hatte also offenbar einen tieferen Sinn. Johann Wolfgang Goethe löste mit seinem Werther eine regelrechte Selbtstötungs-Epidemie aus.
Die ersten Verkehrsbetriebe, die nicht mehr von Selbsttötung oder Suizid sprachen (der Begriff Selbstmord ist Unsinn, weil bei einem Mord niedrige Beweggründe oder Heimtücke im Spiel sein müssen), sondern von Personenschaden, waren m.W. die Wiener. Seither ist das weit verbreitet und es gibt weniger Nachahmungstäter. Kurz es gibt offenbar gute Gründe dafür Suizide dadurch zu vermeiden, indem man sie nicht medial breit tritt. Weder in den Medien, noch bei den Durchsagen der Verkehrsbetriebe.
Mit diesem Wissen im Hinterkopf muss man sich fragen, ob Ereignisse, wie School-Shootings (Amokläufe an Schulen) oder auch Amokläufe, sowie mancher Terrorangriff nicht durch die mediale Aufbereitung eher gefördert wurde. Terror will ja in Angst und Schrecken versetzen. Dazu braucht er die mediale Aufmerksamkeit.
Ich habe keine Übersicht, aber ich frage mich, ob die - zumindest subjektiv so empfundene - Zunahme von Amokläufen und Terror nicht durch eine Medienberichterstattung gefördert wird, die es an einer Zurückhaltung bei der Berichterstattung fehlen lässt und so Nachahmer geradezu anregt. Wenn da ein ähnlicher Mechanismus, wie bei den Selbsttötungen wirkt, dann wäre eine Berichterstattung, die sich auf die wesentlichen Fakten beschränkt und auch erklärt, warum man das tut, vielleicht eine angemessenere Berichterstattung. Man muss damit rechnen, dass ein Teil der Täter nicht aus politischen Motiven handelt, sondern auf Grund einer psychischen Störung, die mit einem Hang zur Selbsttötung gekoppelt sein könnte.
Mir ist klar, dass das eine Gratwanderung bedeutet. Aber ohne großes mediales Echo (in der örtlichen süddeutschen am Samstagabend 18 Geschichten, im überregionalen Spiegel mindestens 14), ohne einen fragwürdigen Nachruhm, ohne Dämonisierung der Täter und ihrer oft schwer verständlichen Handlungen, könnte man vielleicht Nachahmer vermeiden. Vielleicht hülfe es schon den Fokus mehr auf die Opfer zu lenken?
Vielleicht hülfe es das Phänomen nüchtern zu betrachten, dass in unserer arbeitsteiligen und in vielen Bereichen hart an der Grenze des machbaren betriebenen Welt, schon ein Einzelner als Sandkorn im Getriebe wirken kann. Wenn aber das Gesamtsystem so anfällig ist, wäre dann nicht eine andere Konstruktion besser? Oder umgekehrt: Kann ein Einzelner auch positive Wirkungen dieser Tragweite auf das Gesamtsystem auslösen? Wenn ja, wie? Wenn nein, dann ist unser "gesamt- gesellschaftliches Betriebssystem" vielleicht falsch konstruiert? Wie ließe sich das ändern?
Ähnliche Fragen stellten sich mir bereits im Deutschen Herbst", als die RAF das Land in Aufruhr versetzte. Auch damals schaukelten sich ein paar Leute, die durch Terror den Staat provozieren wollten und die "Law and Order"-Fraktion des Staates gegenseitig hoch. Glücklicher sind durch die Aktionen beider Seiten kaum Menschen geworden. Haben wir daraus gelernt? Was?
Wenn die Annahme richtig wäre, dass bei vielen Amokläufen, aber auch Terroraktionen eine Tendenz zur Selbsttötung mit eine Rolle spielt, dann sollte man sich überlegen, wie man darüber so berichten kann (was eine Aufgabe der Medien ist), dass die Berichterstattung nicht zur Nachahmung solcher Taten beiträgt.
Statt eines Bildes, dass bei diesem heiklen Thema in die Irre führen könnte, oben der Verlauf von Schwarz zu Weiß, der alle Abstufungen von Grau enthält, so wie all unser Tun nur selten ganz gut oder ganz böse ist.
 
 
Carl-Josef Kutzbach
Samstag, 23. Juli 2016