Mein Augenarzt ist umgezogen. Er hat seine Praxis in ein Gebäude verlegt, dem man ansieht, dass es ein Investor gestaltet hat. Auf der Baureklame stand – wie heute häufig - kein Mensch, sondern nur Gesellschaften, die sich hinter wohl klingenden Titeln oder nichts sagenden Kürzeln verbergen.
So sieht das neue Gebäude auch aus. Es geht darum mit geringstmöglichem Einsatz kräftig zu imponieren. Alles ist scheinbar zweckmäßig, nicht aber auf Ästhetik oder Wohlbefinden der Benutzer des Hauses ausgelegt. Das beginnt bei den grauen Metallrahmen der Fenster, die sich nur zum Teil öffnen lassen. Wie die wohl geputzt werden sollen? Da sie aber fast bis zum Boden gehen, befinden sich weitere Glasscheiben vor den Flügeln die man öffnen kann und zwar ungefähr bis in Hüfthöhe, so das niemand hinaus fallen soll. Auch viele Türrahmen und Glastür-Rahmen sind aus Metall. Ähnlich ist es im Aufzug. Alles glatt und glänzend. Allerdings: Bei meinem Besuch versperrten Müllcontainer fast den Zugang zum Haus. Sehr einladend.
Der Boden besteht aus Klick-Parkett, Das so aussieht, wie das Deck eines Schiffes nachdem man es zig mal geschrubbt hat. Die Scheuerleiste besteht aus billigen Latten, die weiß angestrichen sind. Wie lange sie weiß bleiben werden, falls hier mal wirklich gescheuert wird oder der Putzdienst mit dem Staubsauger dort entlangfährt, bleibt abzuwarten.
Die Praxis wurde in das Betonregal des Gebäudes eingepasst, nicht etwa das Gebäude an die Bedürfnisse der Praxis, wie man das früher gemacht hätte. Aber so kann man halt statt der Praxis auch irgend einen anderen Mieter rein nehmen. Die Eingangstür führt direkt auf einen weißen Empfang zu und öffnet sich, sobald man draußen oder drinnen davor steht. Müssen Patienten vor dem Tresen warten, führen deren Bewegung dazu, dass sich die Tür ständig öffnet und schließt.
Der Gang vor dem Tresen führt nach rechts auf eine Glastür zu, hinter der laut einem Schild auch die Toiletten sind, die aber den Eindruck erweckt, als befinde man sich in einer Abteilung eines Krankenhauses. Vor der Tür öffnet sich ein etwas breiterer Gang nach links, der als Wartezimmer dient. In einer Zimmerecke steht, scheinbar völlig unmotiviert, eine Betonsäule. Davor ein paar abgewetzte Spielsachen aus der früheren Praxis.
Das Wartezimmer mit seinen weißen Wänden, die man in der gesamten Praxis überall findet, und seinen grau gerahmten großen Fenstern hat etwa den Charme einer Fertiggarage.
Blickt man zum Fenster hinaus, sieht man auf einen großen Hinterhof, der sich über der Tiefgarage erstreckt, deren Lüftungsgitter sowie ein fantasieloser Spielplatz die wesentliche Möblierung sind. Die spielenden Kinder werden also gleich an Autoabgase gewöhnt. Längs der Fassaden Pflasterstreifen oder Kiesflächen, auf denen vermutlich die Steiger der Fensterputzer (oder die Feuerwehr, wenn es brennt?) fahren sollen. Neben einzelnen Hauseingängen sind überdachte Fahrradständer und auf der Wiese, die gnädig die Tiefgarage verdeckt, hat man auch einige Bäume gepflanzt. Hätten sie eine Chance groß zu werden, würden sie in vielen Jahren den Hof beschatten und den Wohnungen das Licht wegnehmen. Aber soweit wird es sicherlich nicht kommen, denn dafür dürfte die Erdschicht auf der Tiefgarage zu dünn sein.
Der Blick auf und in eine Wohnung mit Balkon zeigt, dass sie in etwa so eingerichtet ist, wie man heute anhand von Möbelkatalogen meint eingerichtet sein zu müssen. Die junge Bewohnerin ist erkältet, trinkt Tee, hat sich auf dem Sofa unter eine Decke gekuschelt und geht nur ab und zu barfuß in Leggins zum Papierkorb um Tempos loszuwerden.
Die Hausfassaden, die aus dem Wartezimmerfenster zu sehen sind, wirken in ihrem weiß mit grauen Fensterrahmen und heller grauen Jalousien eher, wie ein industriell gebautes Regal, oder ein Schrank aus einem billigen Möbelhaus, aber nicht wie ein Gebäude, in dem man sich wohl fühlen könnte und gerne bis zum Lebensende wohnen bleiben möchte. Es sind auch alles Mietwohnungen. Ich kann mir gut vorstellen, wie bei Besichtigungen vor allem auf den für die Allgemeinheit nicht zugänglichen Hinterhof, die großen Fenster, sowie pflegeleichte Böden und den Hausmeisterservice hingewiesen wird. Das das Juchzen spielender Kinder möglicherweise zwischen den Wänden des Hofes mehrfach hin und her geworfen und damit zur Belästigung  wird, dürfte dagegen nicht erwähnt werden. Aber welches Kind mag dort spielen?
Auch in der Praxis hat man den Eindruck, dass deren Gestalt an die Vorgaben des Bauherren anzupassen war, denn auch in Behandlungszimmern gibt es scheinbar unmotivierte Vorsprünge, hinter denen sich vermutlich Leitungen verbergen. Alles ist weiß und erscheint dadurch etwas größer, als es in Wirklichkeit ist. Dazu tragen auch die kahlen Wände bei. Das mag beim Augenarzt im Behandlungszimmer sinnvoll sein, aber am Empfang und in dem Wartezimmer könnten freundliche Bilder zu einer freundlicheren Stimmung und einer räumlichen Gliederung beitragen. In der alten Praxis schufen Holzmöbel eine wärmere Atmosphäre. Da in den Behandlungszimmern die Jalousien weit herabgelassen sind, um die Untersuchung zu erleichtern, fühlt man sich beim Warten auf den Arzt, der von Zimmer zu Zimmer huscht, mit den technischen Geräten und dem Schreibtisch samt Computer und Telefon nicht sonderlich wohl und, da ist nichts zu sehen gibt, vergeht die Wartezeit langsamer als nötig. Aber vielleicht hatte der Arzt ja noch nicht genügend Zeit, um den Räumen seinen persönlichen Stempel aufzuprägen.
Die Einrichtung der Praxis entspricht weitgehend dem Konzept des Investors, der den Eindruck von Modernität zu erwecken versucht, indem er mit Metall und Glas, sowie der Farbe weiß Helligkeit vorspiegelt, die aber nirgends zur Freundlichkeit wird. Und das ist das Kernproblem vieler Neubauten, vor allem wenn sie von Investoren errichtet werden, denen es um die Rendite geht, aber nicht um die Befindlichkeit der Bewohner und Benutzer.
Ein Bauherr, der ein Gebäude errichtet, das für einen bestimmten Zweck gedacht ist und der später stolz auf seinen Bau sein möchte, würde dem Gebäude eine völlig andere Form geben, die einerseits seinen Zweck verrät, andererseits aber versucht mit den Gebäuden der Nachbarschaft zu einem harmonischen Ganzen zu verschmelzen.
Bei Investoren-Bauten geht es jedoch darum ein Allzweckgebäude zu schaffen, das in der Herstellung möglichst billig ist, zum Beispiel dadurch, dass man die Böden der Stockwerke am Stück quer durch das ganze Haus zieht und dadurch Aufwand einspart, was diesen Häusern dann die Struktur eines Kellerregals verpasst. Dieses Regal wird dann äußerlich mit irgendeiner Fassade verkleidet, die man, wenn das Gebäude nach 30 Jahren abgeschrieben ist, abreißt und durch eine neue modische Fassade ersetzt. Falls das Gebäude überhaupt auf eine längere Standzeit, als die Abschreibungsdauer ausgelegt wurde. Wenn nicht drohten der Nachbarschaft nach 30 Jahren erneuter Baulärm und Dreck, sowie den Mietern ein erneuter Umzug.
Solche Gebäude, die der Gewinnmaximierung dienen, aber weder der Gemeinde einen optischen Leckerbissen bieten, noch für Benutzer und Bewohner auf deren Bedürfnisse zugeschnitten sind, erzeugen sowohl bei Passanten, als auch bei denen, die sie betreten müssen, das Gefühl, dass der Mensch hier vor allem eine störende Größe sei, nicht aber als jemand, den man gerne ins Gebäude locken und ihm dort Gutes tun möchte. Und betritt man die Gebäude, dann signalisieren sie einem, dass man sich gefälligst den Vorstellungen des Investors und seiner Handlanger entsprechend verhalten solle. Stil, Charme, Ästhetik, gar eine persönliche Linie findet man dort nicht.
Man kommt sich darin wie in einem Krankenhaus der Zukunft vor, bei dem alles, was nicht unabdingbar notwendig ist, eingespart wurde. Zugleich überlegt sich der etwas informierte Laie, dass die großen Metallfenster, die Metalltürrahmen, die Tiefgarage für ca. 250 Autos, die verschiedenen Treppenhäuser samt den Liften die Umwelt belasten und erhebliche Kosten verursachen, die von den Benutzern der Häuser getragen werden müssen. Also dürften die Praxisräume eine wesentlich höhere Miete erfordern, als in der alten Praxis. Auch die neuen Schreibtische gab es nicht umsonst. Da die Ärztehonorare weit gehend festgelegt sind, müssen diese zusätzlichen Kosten irgendwie hereingeholt werden. Das kann eigentlich nur dadurch geschehen, dass mehr Patienten behandelt werden, wenn nicht durch eigentlich nicht notwendige Maßnahmen zusätzliche Einkünfte erzielt werden sollen. Es könnte also sein, dass der Arzt so eilig von Behandlungszimmer zu Behandlungszimmer huscht, um die gestiegenen Kosten hereinzuholen. Für den Patienten ist kein Nutzen erkennbar, da Haltestellen in unmittelbarer Nähe sind und man nach Untersuchungen, bei denen das Auge durch entsprechende Tropfen beeinträchtigt wird, sowieso nicht Autofahren sollte.
Da man die Fenster nur teilweise öffnen kann, ist fraglich, wie sie geputzt werden sollen und ob das nicht nur mit Hilfe eines Steigers, oder aber einer vom Dach herab gelassenen Gondel (also ebenfalls erhöhtem Aufwand) möglich ist. Im Wartezimmer sind die Fenster gut zugänglich, um von innen gesäubert zu werden, aber in Behandlungsräumen stehen teilweise Schreibtische oder Behandlungsstühle davor im Wege. Besonders zwischen den Fenstern, die man öffnen kann und der Scheibe, die ein Hinausstürzen verhindern soll, dürfte sich Dreck ansammeln. Da das Dach nicht über die Hausfassade hinaus steht, trifft der Regen alle Fenster der Gebäude. Entsprechend sehen die Fensterscheiben aus.
Wenn aber die Benutzer sich nicht wirklich wohl fühlen, wenn die Mieter höhere Kosten als früher haben und der Arzt deshalb mehr arbeiten muss, dann fragt sich, wozu ein derartiger Neubau taugt. Einzige Gewinner scheinen der Investor und die Baubranche zu sein.
Da sich hinter Investoren auch Krankenkassen und Lebensversicherungen verbergen, ergibt sich der paradoxe Befund, dass die Versicherten mit ihren Beiträgen zur Verschandelung der Städte und zu Ausgaben beitragen, die ihre Lebensqualität senken, sei es weil ihr Arzt dank gestiegener Kosten weniger Zeit für sie aufwenden kann, sei es dass sie den Anblick dieser Billigarchitektur ertragen müssen, sei es dass sie mit Wohnungen vorlieb nehmen müssen, die teuer, schick, aber nicht unbedingt nach menschlichen Bedürfnissen gestaltet sind.
 
Das Bild oben zeigt die typische Regal-Bauweise „moderner”, auf Rendite ausgerichteter Gebäude, die möglichst in 30 Jahren Steuer-mindernd abgeschrieben werden.
 
Unfreundliche Neubauten
Verödung der Städte II
Carl-Josef Kutzbach
Donnerstag, 16. März 2017 vom 15.2.2017