Um 1979 begegnete ich einem Mitarbeiter einer Ausländerbehörde, der ganz schlecht auf Ausländer zu sprechen war. Kern seiner Klage war, dass er sich zig Mal dieselbe Geschichte anhören musste, von ganz verschiedenen Flüchtlingen und sie deshalb alle für verlogen hielt. Verständlicher Weise wollte dieser Mensch nicht angelogen werden. Vermutlich hatten Schlepper, oder anerkannte Flüchtlinge den Leuten eingeschärft, sie müssten nur bestimmte Begriffe und Schicksale schildern, um anerkannt zu werden, was in etwa dem orientalischen Märchen vom „Sesam öffne Dich“ entspricht, oder dem Verhalten von Suchmaschinen.
Das wiederum lässt vermuten, dass es bei den Behörden einen Katalog gab, an Hand dessen man zu erkennen versuchte, ob jemand berechtigt sei Asyl zu erhalten. Das ist ein typisches Problem der Verwaltung, dass sie - um rechtlich abgesichert zu sein – das Leben in Karopapier zu pressen versucht, wie es auch die Juristen tun.
Im Grunde beklagte sich der Mitarbeiter der Ausländerbehörde darüber, dass er als Mensch nicht ernst genommen wurde, weil die Asylsuchenden sich bemühten nicht als Menschen, sondern sich als in ein Muster Passende zu verhalten (was gegenüber Verwaltung und Justiz keine ganz schlechte Idee ist). Dass dabei jedoch das persönliche Schicksal und die Gerechtigkeit einer Einzelfallentscheidung auf der Strecke bleiben, zwangsläufig bleiben müssen, sahen vermutlich beide Seiten nicht. Den Asylsuchenden dürfte das weniger aufgefallen sein, falls sie aus Ländern kamen, in denen man von der Verwaltung drangsaliert wurde, denn dann war das ihr lange Jahre eingeübtes Verhalten. Man widerspricht der Verwaltung nicht, sondern verhält sich so, wie man denkt, dass die Verwaltung es von einem erwartet. Prompt misslingt die Begegnung, prompt entstehen Vorurteile und Diskriminierung.
Es lag damit vielleicht sogar außerhalb ihres Vorstellungsvermögens, dass nun hier in einer Verwaltung jemand die Wahrheit hätte hören wollen, gar als Mensch bereit war Anteilnahme zu zeigen. Selbst, wenn man das vielleicht ahnte oder spürte, wer würde in einer Anhörung, die über die eigene Zukunft entscheidet, riskieren mal eben auszuprobieren, ob die Menschen hier menschlicher sind, als in der Heimat, aus der man floh?
Das Ganze erinnerte an damalige Kriegsdienstverweigerer-Prüfungen, in denen man sich keinesfalls als nachdenklicher Mensch mit Zweifeln, oder als fröhlicher lebenslustiger Mensch, dem Töten völlig fremd war, zeigen durfte, sondern man musste, im Idealfall durch die Kirche unterstützt, tiefernst behaupten, dass man keinesfalls zum Töten in der Lage sei. Man durfte auch nicht auf Fangfragen herein fallen, die eine Situation beschrieben, in der auch nach dem Gesetz Notwehr zulässig gewesen wäre, denn gab man zu in der Not töten zu können, dann konnte man ja doch töten, war also abzulehnen. Auch damals war eine ehrliche Begegnung zwischen jungen Menschen und erfahrenen Vertretern des Staates nicht möglich.
Heute haben wir es mit mehr Flüchtlingen zu tun und damit auch mit mehr Menschen, die durch ihre Vertreibung, Flucht, Todesangst, Gewalt, Hunger und Missbrauch seelische Verletzungen (Traumata) erlitten haben. Wenn man sich anschaut, wie lange es in Deutschland gedauert hat, bis Menschen über ihre Missbrauchs- und Gewalterfahrungen in Kinderheimen zu reden begonnen haben, und wie schwer sich Manche heute noch mit der Aufarbeitung dieses Unrechts tun, dann ist es kein Wunder, wenn viele Flüchtlinge – nicht nur wegen der Sprachprobleme – über ihr Leid (noch) nicht reden können. Man kann das in etwa vergleichen, mit einer Wunde, die sich gerade geschlossen hat, die kratzt man auch nicht wieder auf, damit sie erneut blutet. So ähnlich ist es bei seelischen Verletzungen auch.
Die Ähnlichkeit geht sogar noch weiter: Eine körperliche Wunde heilt nur, wenn sie sauber in einer halbwegs sauberen Umgebung ist. Seelische Verletzungen brauchen ebenfalls eine Umgebung, in der sich der Mensch sicher fühlt, daher entspannen kann und sich in einer Umgebung befindet, der er langsam aber sicher wieder zu vertrauen lernt. Menschen, die Flüchtlinge betreuen, kennen das. Erst nach einer Wochen oder Monate dauernden Bekanntschaft fangen die Geflohenen an zu erzählen, was ihnen alles widerfahren ist. Verglichen mit einer körperlichen Wunde ist das der Zeitpunkt, wenn eine scheinbar verheilte, ungesäuberte Wunde nach einiger Zeit wieder aufbricht, um den Eiter aus ihrem Inneren los zu werden.
Bei seelischen Verletzungen gilt es behutsam im therapeutischen Gespräch das zutage zu fördern, was den Menschen daran hindert auch seelisch wieder ganz gesund zu werden. Erst, wenn ihn das Erlebte nicht mehr kränkt, „wurmt“, von Innen her zerstört, kann er sich mit aller Kraft seiner eigenen Gegenwart und Zukunft zuwenden. Es gab nach dem zweiten Weltkrieg sehr viele Menschen, die nie über das redeten, was sie erlebt hatten, weil es einfach so schrecklich war, dass sie es verdrängen mussten, egal, ob sie Täter, oder Opfer waren. Diese „Leichen im Keller“ richten heute noch bei den Nachfahren Schäden an, sei es, weil sie da auf ein Loch in der Familiengeschichte stoßen, sei es, weil sie ihre Vorfahren nie ganz verstehen konnten, sei es, weil sie Probleme ihrer Eltern dadurch geerbt haben, z.B. das über manche Dinge nicht sprechen können, obwohl Sprechen ein Weg zum Verständnis und damit zur Heilung sein könnte.
Nun müssen diese Menschen, denen der Laie nicht unbedingt anmerkt, ob die seelisch verletzt sind, oder nicht, in eine Anhörung, bei der sie schildern sollen, was ihnen widerfahren ist, damit entschieden wird, ob sie bleiben dürfen, oder nicht. Es kommt dann vor, dass diese Menschen ausführlich von den Zuständen im Heimatland sprechen, aber es nicht fertig bringen über ihr eigenes Schicksal zu sprechen, denn das wäre das Aufkratzen einer Wunde, die sich grade erst geschlossen hat, oder an die zu rühren für sie zu schmerzhaft wäre. Das kann dazu führen, dass sie abgelehnt werden, obwohl die Schilderung ihrer Erlebnisse zum Asyl geführt hätte. Es kommt also auf Grund dessen, dass eine echte Begegnung misslingt, zu Fehlurteilen, die im Einzelfall katastrophale Folgen haben können.
Nun könnte man sagen, dass die Form des Verfahrens bewusst neutral gewählt wurde, um einerseits die Gefühle im Zaum zu halten und andererseits Beeinflussungen durch Pathos, Theatralik, Schauspielerei etc. klein zu halten.
Aber für die Flüchtlinge, die auf ihrer Flucht oft mehrfach Verhören unterzogen wurden, erscheint die Anhörung eher, wie ein weiteres Verhör, bei dem man äußerst vorsichtig sein muss, was man sagt, um nicht verhaftet oder abgeschoben zu werden. Hinzu kommt häufig die Notwendigkeit des Dolmetschens, wobei es selbst für einen guten Dolmetscher Grenzen des Übersetzbaren gibt. Z.B. kennen viele Ländern den Begriff des „Hausfriedensbruches“ nicht. Auch das verhindert eine offene und ehrliche Begegnung, wobei auch zu fragen wäre, ob die Mitarbeiter der Behörde die tägliche Schilderung zum Teil grausiger Erlebnisse aushalten könnten. Also eine einfache Lösung wird es nicht so leicht geben, es sei denn man könnte die Ursachen bekämpfen, die Millionen Menschen weltweit n die Flucht treiben.
Um vielleicht wenigstens die größten Hindernisse für eine echte Begegnung und damit auch für eine faire Beurteilung der Geflohenen auszuräumen, kann die Suche nach dem Ideal helfen:
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1.Ideal wäre, wenn (wie beim barmherzigen Samariter) jeder Geflohene zunächst einmal körperlich und seelisch untersucht und der Heilungsvorgang eingeleitet würde. Auch mit einer Therapie, wenn das notwendig erscheint. Je eher die Geflohenen an Leib und Seele gesund sind, desto eher können sie wieder für sich selbst sorgen und anerkannte Mitglieder der Gemeinde oder Gesellschaft werden.
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2.Gut wäre auch, wenn die Menschen in kleinen Gruppen über das Land verteilt ein neues Zuhause fänden. Wo sie dann neue Wurzeln schlagen können. Die großen Lager sind von Politikern teilweise bewusst zur Abschreckung eingerichtet worden und führen zwangsläufig zu vermeidbaren Reibereien, sowie zu mehr Umzügen (erneuten Entwurzelungen), als eigentlich nötig.
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3.Wichtig wäre den Menschen eine Arbeit (im Sinn von sinnvoller nützlicher Tätigkeit) zu ermöglichen, so dass sie nicht in übermäßige Grübeleien und das Gefühl der Wertlosigkeit versinken. Es tut dem Menschen gut, wenn er geachtet wird, das Gefühl hat gebraucht zu werden, etwas Nützliches zu tun.
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4.Die Arbeit oder Leistung für die Allgemeinheit sollte bezahlt werden, damit keine Schattenwirtschaft entsteht. Der Verdienst, bzw. dessen Anteil, der die staatlichen Leistungen für den Flüchtling übersteigt, könnte bis zur Entscheidung über dessen Schicksal auf ein Sperrkonto eingezahlt werden, dass dem Geflohenen entweder nach der Anerkennung als Starthilfe, oder bei einer Abschiebung für deren Kosten und als Startkapital daheim dient.
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5.Im Idealfall sollte die Anhörung so verlaufen, dass der Asylsuchende ohne Scheu, voller Vertrauen und daher offen seinen bisherigen Lebensweg schildern könnte, so dass man zu einem wirklich angemessenen Urteil käme. Dazu wäre hilfreich zu wissen, ob er zum Zeitpunkt der Anhörung bereits über seine Erlebnisse sprechen kann, und er einen nicht nur juristischen Beistand hätte, der ihn kennt und im Idealfall auch schildern könnte, wie er sich in der neuen Umgebung eingelebt hat.
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6.Sollte es zu eine Ablehnung kommen wäre es klug mit dem Geflohenen zu überlegen, wie es für ihn weiter gehen könnte, um ein Untertauchen, Suizidgefahr, oder andere Panikreaktionen zu vermeiden. Auch die Möglichkeiten und Grenzen der Duldung wären darzustellen. Wichtig wäre, dass der Mensch eine Perspektive bekommt, die ihm lebenswert erscheint.
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7.Auch der Abgewiesene sollte Deutschland in freundlicher Erinnerung behalten.
Natürlich wäre das ideale Verfahren wohl aufwändiger, als das bisherige, aber die bessere Qualität des Verfahrens für alle Beteiligten dürfte den Aufwand rechtfertigen. Wenn z.B. alle eintreffenden Flüchtlinge davon ausgehen könnten, dass sie nun für einen bestimmten Zeitraum, bis zur Anhörung in Sicherheit sind und sich um ihre Gesundheit kümmern können, wäre schon etwas gewonnen. Käme die Sicherheit hinzu, dass sie selbst bei einer Ablehnung Rat und Hilfe bekämen, wie sie ihr weiteres Leben gestalten können, dann würde das Viele sehr erleichtern, die sich bisher allein durchschlagen mussten und auch von daher sehr erschöpft sein können. Vor allem, wenn sie von ihrer Familie geschickt wurden, um zu erkunden, wo die Zukunft für die Familie liegen könnte. Auch diese Verantwortung ist eine Last, die viele Flüchtlinge tragen.
Das reiche Deutschland könnte hier eine Vorbildrolle einnehmen, wobei es nicht darum ginge alles Leid der Welt in Deutschland zu heilen, sondern aufzuzeigen, wie eine gute Versorgung sich auch langfristig auszahlt, weil Krankheiten und seelisches Leid nicht verschleppt werden, weil Menschen sich als Menschen begegnen (Geflohene und hiesige Verantwortliche). Es geht darum, dass man hohe Kosten und Schäden vermeidet, in dem man die notwendigen Verfahren so gut wie möglich auf die menschlichen Bedürfnisse ausrichtet.
Da Deutschland seinen Wohlstand auch der Ausbeutung anderer Weltgegenden verdankt, besteht auch eine moralisch Pflicht sich um die Benachteiligten und Vertriebenen dieser Welt zu kümmern. Das bedeutet auch, dass man sich für fairen Handel, angemessene Preise, nachhaltige Produktion und anständige Entlohnung und ausgeglichene Handelsbilanzen weltweit einsetzen müsste.
Solange fast jeder Sechste Hunger leidet, wird es Flüchtlinge geben. Vielleicht wäre es auch hilfreich für das Verständnis der Fluchtursachen, wenn man diese auflistet und die Zahl der Fliehenden dazu und zu ihrem Heimatland ins Verhältnis setzt. Hunger (auch als Folge von Armut) und politische Unterdrückung, oder Misswirtschaft dürften die wichtigsten Gründe sein. Es könnte wohl nicht schaden, wenn man weltweit Ross und Reiter nennt und so auch einen gewissen Druck auf die jeweiligen Politiker erzeugt.
Es wäre dann auch spannend zu erfahren, welche Zusammenhänge zwischen Billigläden in reichen Ländern und den armen Arbeiterinnen in Fernost bestehen. Wer verdient da wo dran und was müsste ein Kleidungsstück kosten, wenn die Kinder und Frauen, die es herstellen, einen Lohn bekämen, der in der Kaufkraft dem entspricht, was eine Näherin hier laut Tarifvertrag bekommt.
Da die Verbraucher hier mehr Biowaren nachfragen, als die Bauern liefern können und auch für fair gehandelte Produkte ein Markt besteht, der sich ausweiten könnte, wäre es auch ein großer Fortschritt, wenn bei Möbeln und Textilien mehr Waren angeboten würden, die nachhaltig und fair erzeugt wurden. Heute hat der Verbraucher ja häufig nicht die Wahl, oder erfährt gar nicht, wie die Ware erzeugt wurde.
All das braucht eine gewisse Zeit. Aber es wäre ein Ziel, für das man viele Menschen begeistern könnte und das, in vernünftigem Tempo angestrebt, den Wohlstand und das Wohlergehen auf der Welt fördern würde, so dass nicht nur die Zahl der Hungernden oder Fliehenden sänke, sondern auch die Wirtschaft in einer Weise verändert würde, die nachhaltiger und ruhiger würde, so dass auch dort wieder die Begegnung von Menschen gelingen würde, die heute vor lauter Hektik auf der Strecke bleibt. Da die Begegnung mit anderen Menschen zu den Grundbedürfnissen des Menschen gehört, wäre auch dies ein Anreiz Wirtschaft und Politik zu verändern, so dass weniger Begegnungen misslingen.
Das obere Bild zeigt die „Die Neun Musen“ von Bettina Eichin im Foyer des KG III der Uni Freiburg. Nadja Röll schrieb 2007 dazu auf der Nachrichtenseite www.fudder.de:
Barfuss und in schwere Tücher gehüllt, erinnern sie an Flüchtlinge, die einen langen, schweren Weg auf sich genommen haben. In der Uni haben sie Unterschlupf gefunden, eine Notunterkunft. Woher die dunklen Damen kommen und wohin sie wollen oder ob sie überhaupt irgendein Ziel haben, darüber erfährt man wenig.
Das untere steht in Weingarten und spielt auf eine Sage an, die von einer armen, aber kinderreichen Frau und einer geizigen Adligen erzählt, die keine Kinder bekam. Künstler mir leider unbekannt.