Märchen und Mythen leben von Helden, aber im Alltag sind sie selten. Das könnte erklären, weshalb man sich so nach ihnen sehnt: Sie sind Raritäten. Aber warum? Ein Held zu sein, davon träumt man doch gelegentlich selbst; dass man durch kluges und beherztes Eingreifen Menschen das Leben rettet, eine Katastrophe abwendet, oder die Lösung für eine schon lange ungelöste Frage findet.
Es könnte sein, dass uns die Biologie einen Strich durch unsere Wünsche macht. Einer der wichtigsten Antriebe des Menschen ist zu überleben. Deshalb fliehen wir unter Umständen auch dann, wenn Standhalten besser wäre. Daher ist es auch sehr unwahrscheinlich, dass sich jemand für seine Mitmenschen aufopfert. Nicht, weil es am guten Willen fehlen würde, oder an der notwendigen Einsicht, sondern der Drang zu Leben wird in einer Krise sehr mächtig. Das sieht man auch daran, dass manchmal jugendliche Attentäter den Sprengstoffgürtel im letzten Moment wegwerfen.
Der Schweizer, der die Lanzen der angreifenden Ritter auf sich zog und damit seinen Mitstreitern eine Chance eröffnete die Ritter seitlich anzugreifen, ist ja gerade deshalb so bekannt geworden, weil er etwas tat, was über das normale menschliche Verhalten hinaus geht. Das Gegenteil ist viel häufiger, dass nämlich einige wenige Bewaffnete eine große Zahl Unbewaffneter in Schach, halten, schikanieren, töten, obwohl diese ihnen zahlenmäßig bei Weitem überlegen sind.
Schaut man sich die Helden in Literatur und Geschichte an, dann sind das meist keine blinden Draufgänger, oder Übermenschen mit Muskeln aus Stahl, sondern Menschen, die dank ihrer Kenntnisse und vielleicht auch ihrem Mut in einer Krise etwas tun, womit die Mehrheit nicht gerechnet hat, wie etwa jener einsame Mann auf dem Foto vom Tienanmen-Platz (Übers.: Platz des himmlischen Friedens!) in Peking, der sich den anrollenden Panzern in den Weg stellte, oder jener Lehrer, der bei einem Amoklauf in der Schule den Täter aufforderte ihm in die Augen zu sehen, wenn er ihn erschieße, worauf dieser die Schießerei abbrach.
Wahrscheinlich sind die meisten Menschen auf eine gesunde, weil Leben erhaltende Art, ängstlich. Das nutzen andere dann für ihre Zwecke aus, indem sie fordern „Hände hoch“, oder damit drohen, dass man den Arbeitsplatz verlieren werde, wenn man nicht reibungslos funktioniert, weil es ja so viele gäbe, die diesen Arbeitsplatz gerne hätten.
Arbeitslosigkeit dient vor allem als Druckmittel. Volkswirtschaftlich ist sie Unsinn, weil die Menschen, denen man die Bezahlung ihrer Leistung verweigert, weniger zum allgemeinen Wohl beitragen können, weniger Krankenkassen- und Renten-Beiträge bezahlen können, weniger einkaufen und im Alter auf Unterstützung angewiesen sein werden. Sie kosten also die Allgemeinheit Geld. Für die Wirtschaft jedoch eröffnet Arbeitslosigkeit die Chance Löhne zu drücken und Gewinne zu steigern. Dafür macht man dann schon mal eine Fertigung im Lande dicht, obwohl sie schwarze Zahlen schreibt, und verlegt sie in ein Land mit niedrigeren Löhnen (Nokia in Bochum). Den so erzielten Gewinn streichen Aktionäre und Firmenbesitzer ein. Die Verluste (Arbeitslosengeld, Verlust an Kaufkraft, Umschulungen, oder Zuschüsse zu Krankenkasse, Rente und bei Altersarmut) die zahlen dann vor allem die Mitarbeiter anderer Firmen mit ihren Steuern.
Große Teile der Wirtschaft fürchten daher ein Bedingungsloses Grundeinkommen, weil es die Bürger in die Lage versetzen würde Firmen mit schlechten Arbeitsbedingungen oder niedrigen Löhnen den Rücken zu kehren. Damit fiele das Druckmittel „Arbeitslosigkeit“ weg. Wer aber Druckmittel braucht, um seine Interessen durchzusetzen, der muss sich fragen lassen, ob seine Interessen mit den Interessen der Gemeinschaft, des Staates zusammen passen.
Für die Allgemeinheit wäre es besser, wenn alle, die arbeiten können und wollen, einen nach Tarif bezahlten Arbeitsplatz bekämen, denn das würde den Wohlstand des gesamten Landes steigern und die krankmachende Arbeitslosigkeit vermeiden (Selbstzweifel, Geringschätzung und geringeres Einkommen können alle zu Erkrankungen führen, eben „kränken“). Auch der Staat, also die Gemeinschaft aller Bürger, könnte durch höhere Steuereinnahmen davon profitieren. Die Beiträge zur Krankenkasse könnten etwas niedriger ausfallen und die Armut im Alter würde ebenfalls gelindert.
Es fehlt aber auch in der Politik an Menschen, die für ihre Erkenntnisse einstehen und versuchen ihre Ziele (zum Wohl der Allgemeinheit) voran zu treiben. „Birne“ machte das „Aussitzen“ zur politischen Disziplin. Das Gegenteil ist viel häufiger, wie man bei Putin, Trump, Erdogan und vielen anderen Egomanen der Geschichte sehen kann. Dass die nächste Generation große Probleme mit dem Aufräumen bekommt, weiß man seit Alexander dem Großen. Dabei wäre es für einen Parlamentarier in einer Demokratie kein großes Risiko Veränderungen vorzuschlagen, zu erklären und dafür einzutreten. Im schlimmsten Fall würde er bei den nächsten Wahlen nicht mehr aufgestellt und müsste sich seinen Unterhalt wieder selbst verdienen. Das wäre noch längst kein Heldentum, aber wenigstens ein Versuch dem eigenen Gewissen zu folgen, was Parlamentarier eigentlich immer sollen.
Es gibt noch einen zweiten Mechanismus, der möglicherweise Helden verhindert: Wenn Menschen gestresst sind, dann sind sie weniger hilfsbereit. Dabei kann der Stress einfacher Lärm sein, Gestank, Hektik, Hetze, Not, Sorge um die Familie, Geldmangel usw. Dass einem Mann mit einem Herzanfall von Passanten nicht geholfen wird, ist ein bedenkliches Zeichen, da Menschen in den meisten Kulturen hilfsbereit sind, wenn man sie nicht unter Druck setzt, wie im Dritten Reich, als Nachbarn zu Fremden wurden, sobald man diese als Juden markierte (Die Markierung genügte!). Heute scheint weniger eine gezielte Politik, als viel mehr der flächendeckende Wahn der Effizienz, des immer schneller, immer weiter, immer höher eine Ursache zu sein, wenn sich Menschen nicht mehr so verhalten, wie das eigentlich ihrer Art entspricht: hilfsbereit.
Deshalb bewundert man in Geschichten und Filmen den Helden, der selbst im größten Chaos die Ruhe bewahrt, die Übersicht behält und sich von der allgemeinen Panik nicht anstecken lässt. Wir wissen also eigentlich schon, was uns gut täte und sehnen uns danach. Wir wären gerne auch so gegen Stress unempfindlich und in jeder Lage fähig hilfsbereit und menschlich zu handeln. Das erklärt vielleicht auch den Reiz von Helden, dass sie so handeln, wie wir eigentlich auch gerne handeln würden, es aber unter den gegebenen Umständen nicht schaffen.
Daneben dürfte allerdings auch noch, wie bei Superman, der Faktor Macht eine Rolle spielen. Die meisten Menschen sind sich ihrer Bedingtheit bewusst, haben aber hie und da mal Macht-Phantasien, in denen sie ganz groß raus kommen, weil sie einmal über sich hinaus wachsen, oder plötzlich Fähigkeiten haben, die sie im Alltag an sich selbst vermissen. Ein Mensch, der keine Fremdsprachen kann, träumt vielleicht davon als Dolmetscher den Weltfrieden zu retten, ein Jugendlicher träumt davon später als Arzt ein Mittel gegen Krebs zu finden. Diese Träume sind zwiespältig, denn einerseits möchte man für seine Heldentat anerkannt werden und zeigen, was in einem steckt (also Sehnsucht nach Wertschätzung), auch wenn man im Alltag eher nichts zu sagen hat. Andererseits zeigen diese Träume oft, dass man etwas zum Besseren beitragen möchte.
Eine seltsame materialistische Variante von Machtträumen ist der Kauf von Waffen oder großen Autos, die einem scheinbar Macht verleihen, die aber oft ein Ausgleich dafür sein dürften, dass man weder besonders viel kann, noch weiß, noch zu sagen hat. Es handelt sich also eher um den Kauf von Potenz-Krücken, Machtsymbolen, als um wirkliche Fähigkeiten, für die man längere Zeit lernen und üben muss, wie bei der „Kunst des Bogenschießens“. Auf politischer Ebene ist das der Kauf von Militärgütern und das Vergrößern der Armee. Macht als Druckmittel, statt die Suche nach dem Interessenausgleich ist aber gefährlich. Vor allem wenn Führer jegliches Maß verlieren.
Die Sehnsucht nach Helden ist auch die Sehnsucht nach Vorbildern. Die Ethikforschung geht davon aus, dass mindestens 85% der erwachsenen Menschen Vorbilder brauchen. Kinder und Jugendliche brauchen immer Vorbilder.  Vorbilder sind eigentlich eine gute Sache, weil sich der Einzelne nicht bei jeder Tat vorher Gedanken zu machen braucht, ob und wie er richtig handelt. Wenn es Vorbilder gibt, handelt man so, wie sie und daraus kann eine Tradition entstehen, die ebenfalls in vielen Lebenslagen sagt, wie man richtig handelt. Das kleine Kind sucht sich seine Vorbilder schon relativ früh selbst aus und die Eltern sind erstaunt oder erschrocken, „wo es das denn her hat“. Erwachsene sollten also in Gegenwart von Kindern stets darauf achten, was für ein Vorbild sie abgeben. Und Eltern sollten im Idealfall darauf achten, welche Vorbilder ihre Kinder erleben. Nicht jedes Kinderbuch ist so harmlos, wie es Erwachsene oft meinen. Kinderbücher sind die aktuelle Version von Märchen, die sich fast alle nur um zwei Fragen drehen: Wie reife ich, und wie schaffe ich die Balance zwischen Weiblichem und Männlichen, sowohl in der eigenen Person, als auch in der Beziehung zum Partner.
Es geht dabei nicht darum die Kinder zu Helden zu erziehen, wie im Dritten Reich, sondern zu Menschen, in deren Gegenwart sich Andere wohlfühlen und die deshalb auch beliebt sind. Dazu gehört, dass die Kinder lernen ihre Interessen zu erkennen und für sie einzutreten, aber auch zum Kompromiss fähig werden, weil sie sich in Andere hinein versetzen können.
Im Märchen bekommt der Held stets die schönste Frau, weil er seine Reife nicht nur in der Bewältigung einer Krise gezeigt hat, sondern sich dadurch auch als Mensch erweis, der die Interessen anderer Menschen achtet und wertschätzt und Schwächere nicht unterdrückt. Das ist wunderschön und beglückend, aber es gelingt den Wenigsten. Das weiß der Zuhörer beim Märchen und ab einem gewissen Alter auch das Kind beim Vorlesen, oder selbst Lesen von entsprechenden Büchern. Der gute Schluss, das „Happy End“ streichelt unsere guten Seiten und ermutigt uns auch ein wenig mehr zu sein, wie die Helden. Aber weil das so schwer ist, gibt es eben wenig Helden. Trotzdem brauchen wir sie. Und sei es nur, um uns an unsere guten Seiten zu erinnern und ihnen etwas mehr und öfter zu folgen.
 
Der gute Samariter; Plastik vor der Erlöserkirche in Stuttgart.
Helden? Selten!
Was hindert uns ein Held zu werden?
Carl-Josef Kutzbach
Samstag, 11. März 2017 vom 6.3.2017
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