Schaufenster sollen um 1780 in Paris entstanden sein, wobei dafür großflächige Glasfenster, aus mehreren kleineren Scheiben (siehe oben) zusammen gesetzt, notwendig waren. Auslagen, also das Präsentieren der Ware auf dem Boden, auf Brettern, Tischen, Stellagen, oder dem (Fenster-)Laden (daher der Name) , der nachts den Zugang zum Geschäft blockierte, gab es natürlich schon sehr viel früher.
 
Heute scheint die Blütezeit der Schaufenster vorbei, ja es könnte sein, dass liebevoll dekorierte und exakt mit den Preisen der Waren versehene Schaufenster aussterben. Das scheint paradox, da heute fast beliebig große Glasfenster auch noch im ersten Stock oder weiteren Geschossen die ganze Hausfassade zu einem einzigen Schaufenster machen, bei dem man allerdings nicht nahe genug ran kommt, um die Waren gründlich zu studieren, was ja eigentlich den Passanten ins Geschäft hinein locken soll.
 
 
Wer meint, es läge am Internet, für das die armen Kassiererinnen auch noch werben müssen, obwohl sie damit ihren eigenen Arbeitsplatz gefährden, der irrt. Es trägt vielleicht zur Beschleunigung bei, aber die Ursachen liegen woanders und sind vielfältig.
Wenn ich als Kind mit den Großeltern mit der Straßenbahn durch die Königsstraße (große Einkaufsstraße) fuhr, schauten wir schon, ob Fenster neu dekoriert waren, zu denen wir später unbedingt gehen wollten, wenn wir in der Milchbar Pfannkuchen gegessen hatten, oder bei Bank oder Post Geld geholt hatten. Heute fährt dort keine Straßenbahn und kein Bus, weil die Straße eine Fußgängerzone wurde. Aber die Schaufenster sind nicht attraktiver geworden. Und das nicht nur, weil es eben in den 50er Jahren noch viele Ruinen und noch längst nicht die Warenvielfalt von heute gab. Dafür gab es andere Waren, die man heute nicht mehr findet, etwa ein Tuchhaus, wo man Stoffe kaufen konnte, viele Teppich- und Möbelgeschäfte, mehrere Spielwarenläden, an deren Schaufenster sich vor Weihnachten die Kinder die Nasen platt drückten, um die Modelleisenbahn im Fenster oder die Puppenstuben, die Holzspielzeuge und Spielesammlungen zu bestaunen, oder großartige Bauten aus Plastikbausteinen. Vor Ostern schauten die Kinder sehnsüchtig auf Rollschuhe, Roller, Bälle, Federballschläger oder gar kleine Fahrräder. Es gab vor Weinachten einen Wettbewerb um das schönste Schaufenster und man übertraf sich mit einfachen Mitteln, Papier, Farbe, Licht und Stoffen, sowie ein paar Stellagen, auf denen die Waren möglichst wirkungsvoll vom Schaufenstergestalter ins Licht gesetzt wurden.
Ich erinnere mich heute noch an das Schaufenster eines Juweliers in Freiburg, in dem neben dem Schmuck auch die jeweiligen Edelsteine in roher Form gezeigt wurden. So lernte man nicht nur die Herkunft der Pretiosen, sondern bekam auch eine Ahnung, wie viel Arbeit in den prächtigen Stücken steckte, die deren Preis verständlicher machte.
Die Erwachsenen standen vor den Fenstern und erwogen, was man vielleicht noch anschaffen sollte, oder was man sich vielleicht bald leisten könnte. Und mancher, der im Krieg alles verlor, seufzte still vor sich hin in der Erinnerung an vergangene Pracht. Der Schaufensterbummel am Wochenende, wenn die Läden geschlossen hatten, man also nicht in Gefahr war sein Geld gleich los zu werden, gehörte zu den billigen Sonntagsvergnügungen. Und unter der Woche standen vor allem Damen, an denen Kinderhände zerrten, vor den Schaufenstern eines Kaufhauses, in dem Modells die neuesten Kreationen und den letzten Chic vorführten, während Lautsprecher die Musik auch nach draußen in die vor Wind und Wetter geschützte Passage übertrugen.
 
Heute dagegen werden Schaufenster, die Jahrzehnte lang Kunden angezogen haben, zugeklebt, oder mit belanglosen Fotos und Grafiken gefüllt. Das ist billiger, als der Schaufenstergestaltern, da braucht man weniger Ware, weniger Scheinwerfer, kurz weniger Aufwand. Offenbar traut man der Attraktivität von Waren in Schaufenstern nicht mehr viel zu.
 
Andere, meist kleine Läden, fahren die Glasfront zur Seite, so dass man beim Stöbern an den Ständern mit Klamotten ganz sacht ins Ladeninnere gelotst wird und die Grenze zwischen drinnen und draußen verschwimmt.
 
(Hier wird gleich mehrfach gelogen: Erstens scheint man in den Laden hinein zu sehen, zweitens scheint drin zwar etwas los zu sein, aber  die Wartezeit scheint kurz und das Angebot vielfältig. Dabei nimmt das Foto, das man auf die Fenster klebte, demNähertretenden die Sicht und macht den Verkaufsraum innen dunkler.)
Viele edle Geschäfte, aber auch Fachgeschäfte, die hohe Qualität zu ebenfalls höherem Preis aber mit kompetenter Beratung anboten, haben längst aufgegeben, weil neben ihnen Ein-Euro-Läden, Telefonanbieter oder Billigketten das Ambiente zerstörten, oder die Umbauten in der Nachbarschaft mit Lärm und Dreck die Kunden verscheuchten. Alle Läden, die normierte Produkte anbieten, z.B. Smart-Phones, Textilketten, brauchen eigentlich kein Schaufenster, denn sie bieten ja immer nur die gleichen Waren an. Da gibt es keine Überraschungen, keine spannenden Neuheiten, keine pfiffige Darstellung von Einrichtungen, oder nützlichen Gerätschaften, die man bisher noch nicht kannte. Ein Staubsaugerroboter im Schaufenster bietet wenig Anreiz zum Kauf, zumal er so teuer ist, dass man ihn erst nach dem Studium von Warentests kaufen würde. Früher verließ man sich auf die Kenntnis des Verkäufers und seine Beratung.
Haushaltsgeräte, Computer, Fernseher und andere technische Geräte sind so komplex geworden, dass es wenig Sinn macht, sie ins Schaufenster zu stellen, aber entsprechende Händler bieten oft durch das Schaufenster einen Blick in ihren Ausstellungsraum, wo man die Vielfalt der angebotenen Geräte sehen kann.
Bei Lebensmitteln weiß man nicht so recht, ob man froh sein soll, dass sie nicht mehr am Straßenrand in Abgasschwaden und Staub angeboten werden, oder bedauern soll, dass man sie in der Innenstadt fast nur noch in fensterlosen Kellergeschossen findet, wohin sich kein Tageslicht verirrt, dafür die Waren verkaufsfördernd mit farbigem Licht aufgehübscht werden. Nur auf dem Markt und in der Markthalle findet man Lebensmittel noch bei Tageslicht.
Auch die Verlagerung von Geschäften mit großem Flächenbedarf, etwa Teppiche, Möbel, Gardinen, Tapeten auf die Grüne Wiese draußen vor den Städten, das Entstehen von Bau- und Gartenmärkten, die kleine Maler-, Holz- Werkzeug- Läden oder Gärtnereien in der Stadt finanziell ruinierten, weil sie draußen niedrigere Mieten bezahlen, verringerten die Vielfalt der in den Schaufenstern angebotenen Waren. Dann gab es eine Zeit, in der an allen Ecken Bankfilialen entstanden, deren Schaufenster meist nur Gardinen und Werbeplakate zeigten.
Also die Vielfalt und der Reiz, der früher Menschen zum Schaufensterbummel lockte, hat stark nachgelassen. Wer keine Jeans trägt, braucht die Jeansläden nicht, wer keine Kleidung mit Löchern und Flicken trägt, geht an entsprechenden Läden vorüber, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Wer Sportschuhe nur zum Sport anzieht, ist bei den vielen Läden, die entsprechendes Schuhwerk anbieten falsch. Wer Qualität sucht, meidet die Ketten der Textilbranche, bei denen man stets ein ungutes Gefühl hat, ob man sich nicht unbeabsichtigt zum Mitschuldigen an Ausbeutung und Fabrikeinstürzen in Fernost macht. Banken, Post und Versicherungen haben viele Filialen aufgegeben und durch Automaten ersetzt. Schaufenster werden zwar noch gebaut, aber dann zugeklebt.
 
Seit es Flachbildschirme gibt, leuchtet es den Fußgänger aus immer mehr Schaufenster an, werfen sie bunte Bilder und flackerndes Licht auf die Gehwege. Selbst die Autofahrer werden an manchen Kreuzungen mit riesigen Bildschirmen unterhalten und umworben. Aber Bildschirme sind heute allgegenwärtig, fast wie jede Form der Werbung und dadurch nutzt sich ihre Wirkung ab. Man hat Bildschirme bei sich am Mobiltelefon, zuhause, in Bus und Bahn, im Museum, an der Kasse und in der Gastronomie. Aber es kann einfacher sein ein neues Bild auf den Bildschirm hoch zu laden, als ein Schaufenster zu dekorieren. Also spart man sich den Dekorateur und bezieht die Bilder von den Herstellern. Folglich sieht sie derjenige, der durch die Stadt bummelt, immer wieder und wendet sich gelangweilt ab.
 
Natürlich hat auch der Autoverkehr dazu beigetragen, dass Schaufenster weniger Wirkung zeigen, denn wer rasch vorbei fährt und auf den Verkehr achtet, kann nicht zugleich die Auslagen bewundern. Auch die Beschleunigung von Straßenbahnen, die früher auch durch die  engeren Nebenstraßen ruckelten, senke den Nutzen von Schaufenstern.
 
Dass die Schaufenster auch dazu dienten Tageslicht in die Geschäfte zu lassen, so dass man dort die Farbe eines Stoffes oder eines Kleidungsstückes beurteilen konnte, ist längst vergessen. In vielen Häusern ist es (wegen der Alarmanlage) ein Problem, wenn man – durch unangenehme Erfahrung gewitzt – die Farbe bei Tageslicht prüfen möchte. Dass es für die Stimmung der Mitarbeiter auch gut sein könnte, wenn sie ab und zu mal hinaus schaue können, hat man vergessen. Es gab mal eine Vorschrift, die für jeden Arbeitsplatz Tageslicht und einen Blick ins Freie forderte. Heute müssen arme Menschen in S-Bahnstationen tief unter der Erde in kleinen Kabuffs für teures Geld billige Backwaren und Getränkedosen verhökern. Die Würde des Menschen ist unantastbar? Tja denkste!
Bei Einkaufszentern, den noch größeren Brüdern der Kaufhäuser, gibt es zwar noch Fenster, aber sie werden kaum noch als Schaufenster genutzt.
 
Teilweise stoßen innen Mauern auf die verklebten Fenster im ersten Stock, wie das Bild vom Bau zeigt.
 
Es gibt also viele Gründe, weshalb Schaufenster an Bedeutung verloren, obwohl die Fußgängerzonen zunahmen:
  1. 1.Weniger Fußgänger, mehr Autofahrer.
  2. 2.Schnellerer Verkehr, man achtet weniger auf Schaufenster.
  3. 3.Wandel der Ladenstrukturen, Ketten statt Einzelhandel, Verdrängung des Fachhandels, Auszug von Geschäften, denen die Innenstadtmieten zu teuer wurden, Verdrängung kleinerer Läden durch große Konzerne.
  4. 4.Überangebot von Werbung.
  5. 5.Kosten für Personal und damit Personalabbau; der Schaufensterdekorateur wird gestrichen.
  6. 6.Komplexere technische Waren, die Sachkunde voraus setzen.
  7. 7.Vereinheitlichung des Angebotes zu Gunsten solcher Läden, die hohe Mieten zahlen.
  8. 8.Gierige Hausbesitzer, die das Mögliche aus ihren Immobilien heraus holen wollen.
  9. 9.Krise der Kaufhäuser, die zu Schließungen führte.
  10. 10.Großformatige Werbedrucke sind billiger geworden, mit denen man Schaufenster zukleben kann.
  11. 11.Die Rechtslage scheint sich zu Ungunsten von Mitarbeitern und Kunden geändert zu haben.
  12. 12.Das Internet und Paketdienste machen es scheinbar einfach bequem zuhause einzukaufen. Dass die Kosten für die Rücksendungen im Preis enthalten sind, und die Nachbarn vielleicht irgend wann mal keine Lust mehr haben ständig für berufstätige Pakete anzunehmen, wird dabei ebenso vergessen, wie die Unmöglichkeit Waren durch Anfassen zu prüfen.
 
Überhaupt nicht bedacht wird, wie sich das auf's Stadtbild auswirkt und auf die Aufenthaltsqualität in der Stadt. Was nützt eine Architektur mit vielen Fenstern, wenn diese zugeklebt, oder blind sind?
Wenn das Gebäude keine Fenster braucht, warum wurden sie dann geplant?
Was ist das für eine Architektur, die kurz nach der Fertigstellung durch Zukleben der Fenster „verbessert” werden soll? Und warum so viele Fenster, durch die man mehr Energie verliert, als durch eine Mauer, wenn sie nicht gebraucht werden?
Wer geht denn gerne zwischen Bauzäunen, Lärm, zugeklebten Fensterscheiben und Werbeplakaten spazieren, wenn er beim Bummeln kaum noch attraktive Schaufenster zu sehen bekommt?
 
 
Schaufenstersterben
Verödung der Städte - Teil 3
Carl-Josef Kutzbach
Sonntag, 9. April 2017