In der Nachkriegszeit waren die Straßen recht sauber, denn alles, was man noch irgend wie brauchen konnte, wurde aufgehoben. Mein Großvater hob jeden Nagel auf, auch, wenn er vielleicht schon rostig und krumm war, schließlich konnte man ihn gerade biegen und wieder verwenden und Rohstoffe waren knapp. Brauchte er einen Nagel, schaute er in seine Sammlung und wurde meistens fündig. Bei seinem Tod hinterließ er eine kleine Kiste voller rostiger Nägel. Heute dagegen liegen nicht nur Nägel, oder hochwertigere Schrauben, sondern auch Radkappen und leere Flaschen auf Gehwegen, von Papier, Verpackungen und Zigarettenkippen ganz zu schweigen. Damals sah man arme Leute, die die Kippen sammelten, um aus den Tabakresten neue Zigaretten selbst zu drehen. Papier wurde zum Anzünden der Öfen benutzt. Eisenbahner begrenzten ihre Blumenbeete nahe den Gleisen oft mit leeren, umgekehrt in die Erde gesteckten Flaschen. Fast alles war zum Wegwerfen zu schade.
Auch Bauarbeiter pflegten früher die Nägel aus Brettern mit Kühfuß oder Latthammer heraus zu ziehen, sie grade zu klopfen und wieder zu verwenden. Diente das Brett als Schalung, wurden hinterher die Betonreste abgeklopft, so das man es wieder verwenden konnte. Das sieht man heute kaum noch, denn der Nagel ist billig und die menschliche Arbeitskraft ist teuer geworden. Statt auf Nägel zu hämmern, werden mit Druckluft Stifte oder Klammern ins Holz gejagt. Das geht schneller. Statt eine Schalung aus Brettern zu zimmern, werden vorgefertigte Elemente, wie in einem Baukasten zusammen gesteckt und verschraubt. Das erlaubt zwar nur bestimmte Maße, aber die Kreissäge hat auf heutigen Baustellen viel weniger zu tun, als früher, als sie noch tagsüber kreischte und nachts am Kranhaken in der Luft hing, damit sie niemand stahl.
Eigentlich müsste, je länger die Menschheit besteht und die nicht erneuerbaren Schätze der Erde benutzt, der Wert der Rohstoffe ständig steigen, da man sich ja dem Punkt nähert, an dem alle verfügbaren Bodenschätze ausgebeutet worden sind und man nur noch durch Recycling neue Produkte aus alten machen kann. Dagegen sollten Gegenstände, die aus nachwachsenden Rohstoffen durch menschliche Arbeitskraft hergestellt werden, ziemlich stabile Preise haben, weil zum Beispiel Holz nicht schneller wächst und Menschen nur eine gewisse, vermutlich ungefähr gleiche Zahl an Stunden, Tagen, Wochen, Monaten und Jahren in ihrem Leben arbeiten können und wollen.
Was ist da eigentlich passiert?
Die Erde ist und bleibt endlich. Damit gibt es auch nur eine bestimmte Menge Erz aus der man Nägel machen kann. Da die Zahl der Menschen wuchs, die der Nägel, die man machen könnte, aber nicht, müsste eigentlich der Wert der Nägel gestiegen sein, weil mehr Menschen mehr Nägel brauchen könnten. Umgekehrt hätte die menschliche Arbeitskraft nicht teurer werden dürfen, wenn es doch mehr Menschen gibt, die arbeiten können. Selbstverständlich muss ein Teil der hinzu gekommenen Menschen in der Landwirtschaft tätig sein, um für die Ernährung zu sorgen, aber ein Teil könnte auch beim Hausbau arbeiten, damit alle ein zuhause bekommen. Wenn die Arbeit ungefähr im gleichen Maße auf die zusätzlich geborenen Menschen verteilt worden wäre, wie bisher, dann hätte die Arbeitskraft nicht teuerer werden dürfen.
Man darf annehmen, dass die Menschen in jeder Region zunächst die Böden für die Lebensmittelerzeugung nutzten, die dafür am geeignetsten waren und, dass daher die später hinzu Gekommenen weniger gute Böden bearbeiten mussten, so dass sie mit ihrer Arbeitskraft nicht ganz so großen Wohlstand erreichen konnten, wie jene, die die besten Äcker und Wiesen nutzen konnten. Aber dann hätte der Wert der Arbeitskraft ja sogar sinken müssen!
Was hat sich seit der Nachkriegszeit mit ihrem Mangel geändert? Dank des so genannten Wirtschaftswunders sind die Menschen in Deutschland heute im Durchschnitt wohlhabender, als damals nach dem Krieg mit den zerstörten Häusern und Straßen, mit der abgetragenen Kleidung und den Lebensmittelmarken (bis 1950). Wenn man aber mehr Geld hat, kann man sich mehr kaufen, etwa zwei Päckchen Nägel, statt einem. Nägel können einem dann so billig erscheinen, dass man sich nicht mehr nach ihnen bücken mag.
Wieso verdienen die Menschen mehr, als in der Nachkriegszeit?
Die Grundbedürfnisse Wohnen und Ernährung sind gleich geblieben, aber die Qualität stieg. Statt in einer Ruine auf wenigen Quadratmetern, oder in der eigenen Wohnung mit zusätzlich einquartierten Fremden, haben viel mehr Menschen nun eine Wohnung (oder ein Haus), in der jeder sein Zimmer hat und das noch besser ausgestattet ist. Hinzu gekommen sind vielleicht noch Auto, Garage, Fernseher und andere Annehmlichkeiten. Das kostet natürlich mehr, als früher, erlaubt aber eben auch mehr Geschäfte zu machen und mehr zu verdienen. Aber wenn jeder etwas mehr verdient und diese Mehreinnahmen in Ernährung und Wohnen steckt, dann lebt zwar jeder besser, aber im Grund stiege nur der Lebensstandard dadurch, dass jeder etwas mehr Geschäfte macht, weil er und alle anderen ein wenig mehr Luxus haben möchten.
Dass der Wohlstand in Deutschland so rasch zu nahm (trotz einem Spitzensteuersatz von damals über 90%!) liegt auch daran, dass der Handel, der im Krieg weitgehend auf wenige Länder und Waren beschränkt war, nun wieder zu wachsen begann. Dabei spielte das Etikett „Made in Germany“ (hergestellt in Deutschland), was eigentlich als abschreckende Warnung dienen sollte, eine werbende Rolle, weil die Qualität meist recht gut war.
Zwar hatten die Väter des Grundgesetzes gefordert, dass Importe und Exporte sich die Waage halten sollten, aber das wurde schon bald vergessen, zu verlockend war der Wohlstand, den man dadurch schuf, dass man mehr ins Ausland verkaufte, als von dort einzuführen. So wurde Deutschland zwar zum Exportweltmeister, aber eben auch vom Wohlergehen anderer Länder abhängig. Das Wirtschaftswunder wurde also zum Teil auch vom Ausland mit finanziert, das dadurch ärmer blieb, als möglich. Das soll den Verdienst all der Arbeiter nicht schmälern, die aus den eingekauften Rohstoffen höherwertige Geräte und Gegenstände schufen. Aber es entstand ein Ungleichgewicht, das nur zum Teil dadurch ausgeglichen wurde, dass das wieder reiche Deutschland in der entstehenden Europäischen Gemeinschaft auch einen erheblichen Teil der Kosten übernahm.
Da man „wieder wer“ war und ins Ausland zu reisen begann, sah man dort auch, wie und unter welchen Bedingungen dort gearbeitet und gelebt wurde. Das führte zunächst zur Anwerbung von dortigen Armen , die in Deutschland auf dem Bau oder in der Industrie Handlangerdienste bekamen, aber auch von ausgebildeten Arbeitern, die dann die besseren Arbeitsplätze erhielten.
Der wachsende Welthandel und die sich weiter ausdehnenden Reisen führten zur Globalisierung, die noch einmal einen starken Schub durch Computer und Internet bekam. Nun wurden nicht mehr Arbeitskräfte nach Deutschland geholt, die sich als Menschen entpuppten, sondern man verlegte die Arbeit in solche Länder, in denen die Menschen bereit oder gezwungen waren für wesentlich geringere Löhne zu arbeiten, als in Deutschland. Von „verlängerter Werkbank“ war die Rede, von „Billiglohnländern“.
Aber anders, als bei der Einführung mechanischer Webstühle („Die Weber“ von Gerhart Hauptmann“) gab es keinen Aufstand, als sowieso schon nicht üppig bezahlten Arbeitsplätze in der Textilindustrie und anderen Branchen in ferne Länder verlegt wurden und in Deutschland in so genannten „Struktur-schwachen Gebieten“ die Arbeitslosigkeit stieg. Da dort zugleich die Kaufkraft sank, mussten auch Läden und Wirtshäuser in diesen Gegenden Einbußen hinnehmen oder schließen. Den Gewinn aus der Arbeitsplatzverlagerung ins Ausland strichen nun aber nicht mehr die ein, die die Firmen mit ihrer Arbeit groß gemacht hatten, sondern Andere, die durch Ausbeutung Ärmerer in armen Ländern und durch Verkauf der billig erzeugten Waren mit erheblichem Aufschlag hier fette Gewinne einheimsten. Die Kaffeeanbauer Südamerikas nennen die Zwischenhändler „Kojoten“, weil ihr Wohlstand auf anderer Leute Arbeit beruht.
Nun ist grundsätzlich nichts dagegen zu sagen, wenn die Verlagerung von Arbeitsplätzen das Zeil hätte den Wohlstand über die ganze Welt gleichmäßig zu verteilen. Auch wird niemand einem Künstler aus Asien oder Afrika übel nehmen, wenn seine herausragenden Werke auch anderswo verkauft werden, solange er dabei den größten Teil des Gewinns selbst einstreicht. Wenn Andere bei uns das kaufen, was wir besonders gut können und umgekehrt wir bei ihnen, dann sollte sich das in der Summe ungefähr die Waage halten, denn die Begabungen und Fähigkeiten der Menschen dürften ungefähr gleich verteilt sein. Aber so läuft es leider nicht.
Ein ehemaliger indischer Jetpilot, der eine Textilfabrik betrieb, beklagte sich mal bei mir, dass die Forderung den Arbeitern höhere Löhne zu zahlen, naiv sei, weil man das nicht von heute auf Morgen ändern könne, ohne große Unruhe zu fördern. Das Erreichen höherer Löhne müsse eine langsame Entwicklung sein, damit die Gesellschaft mit käme und sich entsprechend entwickeln könne. In seiner Ansicht ist, wie in jeder guten Ausrede, ein Körnchen Wahrheit. Sehr rasche Veränderungen überfordern Menschen meistens. Daher scheitern auch viele Revolutionen, so dass langsamere Entwicklungen tatsächlich die stabileren Veränderungen sind. Aber er hätte glaubwürdiger geklungen, wenn er nicht grade auf dem Weg nach Amerika zum Golfspielen gewesen wäre.
Es fand auch in Deutschland eine Spaltung der Gesellschaft statt, in solche, die ihre ohnehin nicht üppig bezahlten Arbeitsplätze verloren (egal ob ins Ausland, oder an Computer und Roboter), und solche, die dadurch, dass sie andere für sich arbeiten ließen, immer reicher wurden. Laut Armutsbericht der Bundesregierung besaßen 2012 die reichsten 10 % mit 53% über die Hälfte aller Güter, während die ärmere Hälfte der Bevölkerung es auf nur 1 % brachte. Und dabei beschönigt der Bericht die Tatsachen, weil sich sonst die Bundesregierung (und ihre Vorgänger) an die eigene Nase fassen müssten, weil es ihre Politik ist, die die Reichen reicher macht und die öffentliche Hand und die keinen Leute verarmen lässt. Wobei jeder Armutsbericht die Schwerpunkte verschiebt, so dass langfristige Vergleiche eigentlich nur Kennern der Materie möglich sind. Außerdem werden Grundstücke oder Firmenbesitz so bewertet, dass die Spreizung in arm und reich nicht so deutlich wird, was den Reichen selbstverständlich gefällt, da sie, wie man schon seit Jahrzehnten in den Sozialwissenschaften weiß, der Meinung sind, ihr Reichtum sei das Ergebnis eigener harter Arbeit.
Selbstverständlich gehört dazu auch das Märchen, dass es jede und jeder aus eigener Kraft schaffen könne reich zu werden. Sonderbar, dass das in der Praxis so selten geschieht, obwohl das deutsche Schulsystem heute durchlässiger ist, als früher und die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), sicher kein Hort von Revolutionären, Deutschland immer wieder vorwirft Kinder aus armen Familien zu benachteiligen und damit der gesamten Gesellschaft zu schaden.
Warum gibt es keinen Aufstand gegen diese gefährliche Entwicklung?
Dafür gibt es zwei Erklärungen:
  1. 1.Wenn man einen Frosch in einen Topf mit kaltem Wasser setzt und den dann erhitzt, merkt der Frosch – wegen des langsamen Temperaturanstiegs – erst zu spät, dass er gekocht wird und springt nicht bei Zeiten aus dem Topf. Das An-den-Rand-drängen, arbeitslos machen und die Entlohnung absenken, oder nicht im gleichen Maße anheben, erfolgte langsam. Zugleich wurde behauptet, jeder bekäme eine Chance und sei selbst schuld, wenn er oder sie diese nicht nutze. Damit wurden die von Politik und Wirtschaft veränderten Rahmenbedingungen verschleiert und deren Versagen dem Einzelnen in die Schuhe geschoben. Wie viele sich da wohl in ihrer Verzweiflung, Kränkung und Entwertung dem Suff ergaben, oder sich umbrachten, weil sie die Schuld bei sich selbst suchten, statt bei den Mächtigen?
  2. 2.„Brot & Spiele“ waren schon im alten Rom ein bewährtes Mittel um die Massen ruhig zu stellen. Man muss also nur die Lebensmittelpreise, die Preise für die notwendige Grundausstattung und den Zugang zu Massenveranstaltungen sicher stellen, dann entlädt sich die Enttäuschung über die Benachteiligung eher im Fußballstadion oder in Schlägereien, als in politischer Aktion und Demonstrationen. Also machten Billigheimer mit scheinbar preiswerten Angeboten (die aber die kleinen Läden verdrängten und damit weitere Wege beim Einkaufen zur Folge hatten) gute Geschäfte und ihre Besitzer wurden zu den reichsten Deutschen. Ähnlich war es bei Textilien und Elektronik (Spielen), wo man den Armen einredet „Geiz sei geil“ und sie wären besonders klug, wenn sie sich Schnäppchen kauften. Dass für den Schlussverkauf durchaus auch minderwertige Ware beschafft wird, die dann scheinbar günstig verkauft wird, und auch die Etiketten nobler Marken nur noch in billig beschaffte Kleidung eingenährt werden, muss man dem Verbraucher ja nicht verraten. Der freut sich dagegen, wenn immer neue Erfolge in Wissenschaft und Technik verkündet werden, oder Deutschland sich in einem Fußballsommermärchen sonnt, egal, wie das nun zustande kam.
Angenommen es gäbe all die Diskounter und Billigheimer nicht und der Bürger müsste faire Preise für faire Ware (ökologisch und mit anständigen Arbeitsbedingungen) bezahlen, dann sähe Deutschland ganz anders aus. Aber vielleicht wären die meisten Menschen glücklicher und manche würden sich wieder nach einem Nagel oder einer Schraube bücken.
Bild oben: Ein sauberes Kopfsteinpflaster in Bamberg.
Unten: Ein selten gewordenes Hirnholzpflaster auch in Bamberg, das die Hufe der Pferde schonte.
 
Opas Nagelkiste
Vom Wandel der Werte
Carl-Josef Kutzbach
Mittwoch, 22. März 2017