Das Streben nach größtmöglichem Eigennutz ruiniert die Innenstädte
 
Warum veröden Innenstädte und Viertel? Wegen des Internets? Da sind Zweifel angebracht, denn Vieles, was es im Netz gibt, findet man bei den Ladenketten nicht. Die Ladenketten sind in fast jeder Stadt zu finden und machen Einkaufsfahrten in fremde Städte nahezu sinnlos.
Woher kommen die Ladenketten?
Ladenketten können billiger sein als ein Einzelhändler, weil sie größere Mengen einkaufen und weniger Personal für Marktrecherche und Einkauf brauchen. Daher haben sie bei gleichen Endverbraucherpreisen die höhere Gewinnspanne und können höhere Mieten in Innenstädten bezahlen als ein Einzelhändler.
Zudem verdrängen Ketten den Einzelhandel auch deshalb, weil die Hausbesitzer versuchen die höchsten Mieten zu erzielen. Das bedeutet aber auch, dass die Gier einiger Hausbesitzer ein Grund für die Verödung der Innenstädte ist. So führte eine Mieterhöhung durch die Erben in der oberen Königstraße zum Verschwinden von Weises Hofbuchhandlung und dem Auszug des Renitenz-Theaters.
Ein weiterer Grund sind Neubauten von Investoren, die eine möglichst hohe Rendite erwirtschaften wollen. Das geht nur, wenn sie in guter Lage Flächen anbieten können, die den höheren Preis zu rechtfertigen scheinen. Also baut man ein simples, möglichst großes Regal aus Stahlbeton (je mehr Fläche, desto mehr Einnahmen), hängt chice Fassaden davor und bietet das Ganze dann zu Preisen an, die alteingesessene Einzelhändler nicht bezahlen können.
Das Fatale daran ist nicht nur die meist dürftige Architektur der Gebäude, sondern, dass für die Finanzierung die bei Versicherungen und Krankenkassen vorhandenen Gelder verwendet werden, die angelegt werden um Zinsen zu bringen, so dass der Bürger mit seinen Versicherungen unfreiwillig zu dieser Verödung der Innenstädte beiträgt.
Ein weiterer Zusammenhang ist, dass die großen Läden auf der grünen Wiese und so genannte „Supermärkte“ die Gewinnspannen im Einzelhandel nach unten drückten (angeblich auf 0,7 %) so dass kleine Läden davon nicht mehr existieren können und aufgeben müssen, sobald die alten Eigentümer, die selbst mit ihrer Familie für den Laden oder das Lokal lebten, aufgeben und keine Nachfolger finden.
Zum Beispiel die Läden in der Lenzhalde1, wo es einst Friseur Kurzwarenladen (Nähzeug und Wäscherei), Metzgerei, Bäckerei, Kolonialwarenladen (s.o.) (Lebensmittel) und Milchgeschäft gab. Kurz nach dem Krieg gab es sogar in einer Ruine einen Schuhmacher, und in der Nähe existierte eine Drogerie. Alle sind heute verschwunden. Ähnlich ist es in der Leibnitz-Straße mit dem Laden von Herrn Siller gewesen, oder an der Mündung der Zeppelinstraße in die Kräherwaldstraße.
Ehemaliger Laden, den danach ein Imobilienmakler nutzte.
Ähnliches beschreibt Jörg Kurz in den Nordgeschichten für den Killesberg (s.o.); von zehn Geschäften in einem Wohngebiet von knapp 500 mal 500 Metern blieben ein Getränkemarkt übrig und eine Gaststätte. Das bedeutet aber, dass die Nahversorgung zu Fuß erschwert oder unmöglich wird, und die Menschen auf Auto oder öffentlichen Nahverkehr angewiesen sind, um ihre alltäglichen Bedürfnisse befriedigen zu können.
Nur große Ketten, die lange Durststrecken überstehen können, waren in der Lage trotz geringerer Gewinnspannen zu überleben und Gewinne zu machen, aber auch, indem sie mit billigerem ungelernten Personal arbeiten. Dabei wurde zugleich ein Teil des Aufwandes für die Verteilung der Ware den Anwohnern übertragen, weil sie nämlich jetzt weitere Wege haben und Auto oder öffentlichen Nahverkehr benutzen und auch selbst bezahlen müssen. Ob eine andere Form der Verteilung nicht viel günstiger wäre, wäre zu prüfen.
Es ist anzunehmen, dass kurz nach dem Krieg in den mageren Jahren die Form der Verteilung gewählt wurde, die am effizientesten und billigsten war, weil sie vielen Menschen erlaubte ihre Einkäufe in der Nachbarschaft und zu Fuß zu erledigen. Die Ladenbesitzer besorgten entweder frische Waren selbst auf dem Großmarkt, oder wurden von Lieferwägen beliefert. Zudem gab es fahrende Händler, die in Viertel ohne Läden fuhren. Da große Teile der Bevölkerung auch ohne eigenes Auto versorgt waren, war der Verkehr geringer und weniger lästig (Abgase, Lärm, Parkplätze, für die später viele Vorgärten „platt gemacht“ wurden).
Dass die kleinräumige Ladenstruktur auch dem Zusammenhalt im Viertel nutzte, weil man sich kannte, einander beim Einkaufen begegnete und gelegentlich auch half, kommt noch hinzu. Das Streben nach immer höheren Gewinnen, oder der Gewinnmaximierung bei einzelnen großen Firmen, führte also nicht nur zur schlechteren Versorgung in den Wohngebieten, sondern auch zur Verödung der Viertel und der Innenstädte, deren Warenangebot sich auf solche Waren beschränkt, bei denen sich entweder durch billige Produktion (Kleidung aus Fernost), oder durch hohe Verkaufszahlen (billiges Spielzeug und Nippes) hohe Gewinne machen lassen. Ausgefallenere oder ganz banale Wünsche darf man in der Innenstadt nicht mehr haben.
 
Der Samenhändler Pfitzer (siehe links) von dem am Marktplatz nur noch sein Signet an einer Hauswand blieb, ist ebenso Geschichte, wie der Eisenwarenhändler Zahn und Nopper. Wer Holzplatten, Bretter, Leim oder Leisten braucht, hat Glück, wenn er einen Schreiner findet, der ihm helfen kann, sonst muss er hinaus zum Baumarkt fahren. Die Beleuchtungszentrale, viele Radio-, Fernseh- und Musikgeschäfte (Barth, Grüner, Strasser) sind verschwunden, oder durch große Ketten verdrängt worden. Schreibwarenläden (Abele, Hauffler, Martz, Rehn) Heimtextilien, Wand- und Fußbodenbeläge, Möbel, handgeknüpfte Teppiche, Bilderrahmen, Kunst und Kunsthandwerk sind weitgehend aus der Innenstadt verschwunden, weil sie nicht genug Rendite bringen.
Die Gier nach größtmöglichen Gewinnen (die primitiver Weise nur nach Zahlen fragt, nicht aber nach den Auswirkungen auf die Menschen, geschweige denn nach einer Gesamtbilanz) hat also nicht nur die Nahversorgung, Vorgärten, den Fußgängerverkehr und die sozialen Beziehungen in Wohngebieten zerstört, sondern auch die Umweltbelastung erhöht, weil ein eigenes Auto und der Öffentliche Nahverkehr für viele Einkäufe notwendig wurden.
Die Verdrängung der Inhaber-geführten Fachgeschäfte in der Innenstadt durch Ladenketten hat auch dort zu einer Verödung geführt, die man teilweise noch auf die Spitze treibt, indem man die Schaufenster mit Plakaten zuklebt, weil man so den Dekorateur einsparen kann.
So wird auch noch der Schaufensterbummel ruiniert, der früher zu einem Besuch der Innenstadt unbedingt dazu gehörte.
Dasselbe Gebäude, wie ganz oben, nachdem die Umsätze nicht den Erwartungen entsprachen und man meinte, das mit mehr Werbung ändern zu können.
Wenn es aber in der Innenstadt nur noch ein beschränktes Angebot von Waren gibt, die den Vermarktern hohe Gewinne versprechen, weil sie entweder billig mit minder Qualität produziert wurden, oder in solchen Mengen, dass individuelle Wünsche zu kurz kommen, dann lohnt es sich nicht mehr zum Einkaufen in die Innenstädte zu gehen, zumal das Internet durch die Auftritte der Ladenketten all das auch bietet. Zum Teil bietet das Internet aber noch das, was man früher an Individuellem und Hochwertigen bei Inhaber-geführten Ladengeschäften bekam, die von den Ketten verdrängt wurden und die heute zur Belebung der Innenstädte fehlen.
Aber auch die alltägliche Zeitnot, die Hetze führt dazu, dass Kunden am Liebsten alles in einem Geschäft erledigen möchten, das aber bitte-schön nicht nach Kaufhaus aussehen soll, sondern so tun, als ob es sich um einen Basar handele. Deshalb werden Einkaufszentren entsprechend gestaltet, obwohl schon das Konzept in großen Läden Inseln für bestimmte Marken einzurichten, oder fremde Firmen als Mieter von Regal- oder Standflächen ins Haus zu holen, für die Kunden nicht so sehr erfolgreich war. Männer mögen nicht an zig Stellen im Haus nach Hosen suchen und dann unter Umständen noch mal zurück laufen, weil am Ende eine früher gesehene Hose doch besser gefiel, denn auch das verplempert ihre kostbare Zeit.
Auch Gebäude, die lange Zeit leer stehen, oder umgebaut werden und mit Lärm und Dreck die Laufkundschaft vertreiben, tragen nicht zur Anziehungskraft von Innenstädten bei. Und da solche Gebäude immer größer werden, ja, wie beim Gerber (s.u. während der Bauzeit) ganze Viertel total verändern, so das alles Vertraute verschwindet, ruinieren sie ihre Umgebung über Jahre hinweg, bis sie endlich eröffnet werden und schon wenige Jahrzehnte später, wenn sie veraltet und überholt saniert werden müssen noch einmal.
Die Gebäude mit den leeren Fensterhöhlen in der Bildmitte zeigen einen Teil des Gerber genannten Einkaufszentrums in Stuttgart vor dessen Fertigstellung.
Wenn Gebäude herunter kommen, oder Viertel durch Umbauarbeiten oder Auszug von attraktiven Läden weniger besucht werden, wird meist an der Pflege gespart und es dauert nicht lang, bis Graffitti oder wildes Plakatieren den Niedergang dieses Teils der Stadt verkünden. Dabei spielt sicher auch ein Rolle, dass es kaum noch Firmen gibt, die gepflegte Grünflächen ums Haus herum haben und die wenigen öffentlichen Grünflächen werden – man hat ja kein Geld – nur noch sporadisch gepflegt und künden meist nur noch durch ihre Form von der bunten Pracht früherer Zeiten. In den 60er, 70er Jahren war niedriger Busch-artiger Cottoneaster das ideale pflegeleichte Straßen-begleit-Grün, bis man merkte, dass sich darin auch Ratten niederließen. Also wurde entweder Rasen gesät, oder gleich ganz gepflastert, damit man weniger Arbeit mit der Pflege habe.
      
Stuttgarts Altes Schloss vom Karlsplatz aus gesehen. Wo 2005 noch Rasen war, erstreckt sich 2007 ödes staubiges Pflaster.
Ein anderer Trick an der Pflege zu sparen sind Beete voller Steine, die aber nichts mit einem Steingarten zu tun haben, sondern mittels Folien und darauf ausgestreuten Steinen oder Rindenmulch das Unkrautjäten ersparen sollen und damit Kosten für die Grünanlagenpflege.
Wenn Grünanlagen überhaupt noch „gepflegt“ werden, dann kommt ein Trupp mit Maschinen vorbei, der alles kurz schneidet und eine Art lebende Wüstenei zurück lässt. Das sieht dann wieder Monatelang ungepflegt und verwüstet aus, ehe das Grün sich wieder so weit erholt hat, dass es die Schäden und den Müll zwischen den kargen Resten gnädig zudeckt, den die Pfleger oft einfach liegen lassen. Von einem sachgemäßen, wohl überlegten Busch- und Baumschnitt, also der Hege, kann man in vielen Fällen nicht mehr sprechen.
Dafür wird mit Licht versucht Eindruck zu schinden. Immer mehr Gebäude werden angestrahlt, oder haben Lichtinstallationen fest eingebaut, um aufzufallen, oder sich als etwas Besonderes darzubieten. Da es immer mehr machen, müssen andere, die ebenfalls auffallen wollen auch immer mehr machen. Da wird der Nachthimmel mit einer Art Suchscheinwerfer abgetastet, da werden Bahnhofshallen mit unzähligen Lichtquellen festlich heraus geputzt und Weihnachtsbäume haben nicht mehr ein paar Lichter, oder einige Lichterketten, sondern sind gleich ganz in ein Netz aus Lichtquellen eingehüllt, so dass der Baum fast nur noch eine tragende Funktion hat, aber selbst kaum noch zu sehen ist. „Masse statt Klasse” scheint auch hier die Devise.
Die Energiekosten oder die Lichtverschmutzung, die Lebewesen irritiert, ja unzählige Insekten das Leben kostet, interessieren niemand.
 
Nicht mal vor der Blendung der Passanten schreckt man zurück und baut die Scheinwerfern in den Boden, wo sie denjenigen blenden, der auf den Boden achten muss, um nicht zu stürzen, also vor allem Ältere, die oft sowieso eine verringerte Sehfähigkeit und damit eine höhere Blendungs-Empfindlichkeit haben.
 
Dass die Art der Beleuchtung manchmal unangenehme Ähnlichkeiten mit Nazi-Lichtspektakeln, und Machtdemonstrationen haben, ist den wenigsten bewusst.
Aber  es geht genau wie damals darum zu imponieren, Bedeutung und Macht symbolisch durch Licht zu unterstreichen. Offenbar hat man das nötig. Man schmückte das Gebäude sogar mit einer Leuchtschrift „Hindenburgbau”, die wenige Jahre später stillschweigend entfernt wurde.
Aber wenn der einzelne Mensch durch Bauten, Anlagen, oder Imponier-Gehabe klein gemacht wird, dann fühlt er sich nicht wohl. Dann gibt es auch nichts, was man von Gleich zu Gleich betrachten könnte, etwa liebevoll dekorierte Schaufenster, einen ästhetischen, weil auch bescheidenen Weihnachtsbaum, eine zweckmäßige und schöne Straßenbeleuchtung, unaufdringlich und ohne Effekthascherei, das Anstrahlen der alten Stadtsymbole, um sie als Orientierungspunkte, aber auch als beruhigende Anker hervor zu haben, kurz eine maßvolle und auf den Menschen als Nutzer ausgerichtete Gestaltung der Stadt, ihrer Gebäude und Räume samt Grünanlagen, die dem Bürger das Gefühl vermittelt, dass er hier gern gesehen ist und sich wohl fühlen soll, das fehlt.
Statt dessen einerseits Prunk und Protz, pubertäre Angeberei und Imponiergehabe, andererseits Lieblosigkeit und Gedankenlosigkeit bei der Gestaltung, die sich nach finanziellen Gesichtspunkten richtet (Asphalt oder Pflaster ist billiger zu pflegen, als Gras und man kann darauf auch Autos parken und Märkte abhalten).
An der Stelle, wo früher Rasen war, parken jetzt auch Fahrzeuge, wie auf allen anderen Seiten des Alten Schlosses, was alle Touristen freut, die diesen um 1000 Jahre alten Bau (bzw. seine Rekonstruktion) fotografieren wollen.
Auch der Wandel des Warenangebotes (siehe oben) führt dazu, dass mancher Flaneur sich fragt, was er damit soll, oder wer Geld für die zum Teil minderwertigen Verbrauchsgüter ausgibt, denen man ihre Kurzlebigkeit oft schon ansieht, sobald man sie genauer betrachtet. Wenn aber Schaufensterbummel, Flanieren und Promenieren kein Vergnügen mehr machen, dann leidet das Flair einer Stadt und es dauert nicht lang, bis Missbrauch, Sachbeschädigung, Müll und Verschmutzung kräftig dazu beitragen, dass man die Innenstadt meidet. Wenn dann noch, wie in Stuttgart viele Baustellen über lange Zeit manche Viertel zur Sperrzone werden lassen, dann ist es bald auch aus mit dem Charme der Stadt, und man ist wieder bei Alexander Mitscherlichs: „Unwirtlichkeit der Städte“.
 
 
Verödung der Städte
Carl-Josef Kutzbach
Freitag, 23. Dezember 2016