Menschen, die in eine Krise geraten, versuchen diese zunächst einmal mit bewährtem/n Verhalten(smustern) zu lösen. Gelingt das jedoch nicht, regredieren (gehen zurück) sie zum Kleinkind, das nur am eigenen Überleben interessiert ist. Unter dem Gesichtspunkt der Arterhaltung sind das zwei durchaus nützliche Verhaltensmuster.
 
Was bringt Menschen in eine Krise?
Hauptursache ist Unsicherheit, wie man sich verhalten soll. Das kann eine einfache Weggabelung im Nebel sein, die man auf der Karte nicht zuordnen kann und daher nicht weiß, welchen Weg man einschlagen soll. Das kann eine persönliche Krise sein, eine schwere Kränkung, oder, wenn man von nahe stehenden oder geliebten Menschen getrennt wird, das kann ein Scheitern in Schule oder Beruf sein, oder eine schwere Erkrankung.
Solange ein Mensch das Gefühl hat, er könne eine Schwierigkeit meistern und er wisse, wie er damit umgehen müsse, solange er sich also handlungsfähig fühlt, ist das meist noch keine völlig verstörende Krise. Erst, wenn die Unsicherheit so groß wird, dass der Mensch nicht mehr weiß, was er tun soll, oder er die Umstände als so bedrohlich erlebt, dass er von der Angst gelähmt wird, wird aus einer normalen Herausforderung eine persönliche Krise.
 
Was ist Unsicherheit?
Alles, was fremd und neu ist kann unsicher machen. Das kann ein angenehmes Gefühl sein, wenn man zum ersten Mal bei einer Veranstaltung auftritt, ein Konzert erlebt, oder allein verreist. Ein bisschen fremd, ein bisschen neu, das ist gar nicht schlecht und kann sogar Spaß machen, wenn man beispielsweise neue Menschen, neue Speisen oder Spiele kennen lernt. Aber wie bei der Angst gibt es – vermutlich für jeden unterschiedlich – einen Punkt, wo die Angst, die einem Beine macht, Flügel verleiht, also Handlungen fördert, in eine Angst umschlägt, die lähmt. Ähnlich dürfte es bei der Unsicherheit sein. Bis zu einem gewissen Grad reizt sie uns (Urlaub in der Fremde), aber wenn die Unsicherheit so groß wird, dass sie uns sozusagen den festen Boden unter den Füßen wegzieht (Vertreibung und Flucht), dann geraten wir in eine Krise.
 
Was erzeugt Unsicherheit?
Dazu muss man zunächst einmal fragen was Sicherheit bietet: Das beginnt schon beim Säugling, dass Bekanntes (Stimme, Geruch, Gesicht der Eltern) und Vertrautes (Wiege, Bettchen, Spielsachen) beruhigt, ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Unsicherheit entsteht, wenn Vertrautes weg fällt. Das kann bei einem Umzug geschehen, wenn man Familie und Freunde verlässt, wenn man die Schule wechselt, oder in ein fremdes Land zieht. Kurz, wenn die Zahl der vertrauten Dinge, auf die man sich bisher verlassen hat und verlassen konnte, stark abnimmt und die Zahl der fremden Dinge oder Regeln stark zunimmt.
 
Im Rausch der Geschwindigkeit
In der Natur ist für viele Lebewesen eine Veränderung der Umwelt von mehr als 25 Prozent lebensgefährlich. Bei Menschen weiß man, dass starke Veränderungen der Gesellschaft zu einem Anstieg der psychischen Erkrankungen führen. Bei fast allen Revolutionen lässt sich beobachten, dass nach einem stürmischen Aufbruch recht bald eine Sehnsucht nach der alten Ordnung (dem Vertrauten, dem Verlässlichen) wach wird, die häufig dazu führt, dass nach einer Revolution wieder ähnliche Verhältnisse herrschen, wie vorher. Offenbar stellen rasche gesellschaftliche Veränderungen eine Belastung dar, die den Menschen zu schaffen macht. Revolutionen machen ja auch deshalb unsicher, weil man sich nicht mehr auf die althergebrachten Regeln verlassen kann, sondern versucht sich den neuen Regeln anzupassen, die man noch nicht so gut kennt und in ihren Auswirkungen noch nicht richtig einschätzen kann. Das macht unsicher.
Das gilt aber nicht nur für Revolutionen, sondern auch für rasche technische Entwicklungen, die einen Teil der Bevölkerung überfordern. Die Älteren haben als Kommunikationswege den Brief, das Fernschreiben, das Morsen, das Telegramm, das Fax, die E-mail und die Textnachricht erlebt. Einiges parallel, anderes nacheinander. Man rechnet für die Einführung einer neuen Technik zwar nur ungefähr zehn Jahre, bis sie auf den Markt kommt, aber etwa eine Generation, also 25 Jahre, bis sie für die Menschen alltäglich und selbstverständlich geworden ist. Der rasche technische Wandel, der sich sogar zu beschleunigen scheint, dürfte also bei vielen Menschen, die gezwungen sind sich damit auseinander zu setzen, Unsicherheit hervorrufen.
 
Unverbindlichkeit zerstört Verbindendes
Genauso kann der Wegfall von Vertrautem und Gewohntem unsicher machen. Der Baum vor dem Fenster, der gefällt wird, das Haus gegenüber, das abgerissen wird, die Umgangsformen, die nicht mehr gelten, Firmen und Institutionen, die man für verlässlich hielt und die sich nun als weniger vertrauenswürdig erweisen (ADAC, Autobranche bei Abgasen und Verbrauch, Banken, Deutsche Bahn (die nicht mehr pünktlich ist, wie im Sprichwort), ehemalige Bildungsabschüsse, wie der Ingenieur, Gerichte, die erst nach Jahren ein Urteil sprechen, usw.).
Menschen sind heute in vielen Ländern aus mehreren Gründen von Unsicherheit bedroht:
  1. 1.einem technischen Wandel, der möglicherweise ein zu hohes Tempo erreicht hat.
  2. 2.zunehmende Verantwortungslosigkeit bei Wirtschaft und Politik, egal, ob Zusagen nicht eingehalten werden, Gesetze sich ständig ändern, Garantien nur noch kurz gelten, die Haltbarkeit und Qualität von Waren und Dienstleistungen sinkt (was einer schleichenden Enteignung oder Verarmung gleicht), oder die Angaben in Katalogen und Parteiprogrammen, die so formuliert sind, dass man in die Irre geführt wird, und die Führungselite in vielen Ländern ihre Glaubwürdigkeit einbüßt.
  3. 3.Der angebliche Fortschritt bedeutet für immer mehr Menschen, dass immer weniger Menschen immer mehr von dieser Welt besitzen, sie selbst aber an diesem Zuwachs an Wohlstand nicht teilhaben, sondern eher sozial abrutschen, was Ängste weckt.
  4. 4.Gemeinschaften, die auf verlässliche Mitglieder und verbindlichen Absprachen aufbauen haben es immer schwerer – egal ob das Chöre, Kirchengemeinden, oder Vereine sind – und können daher aber auch nicht mehr die Geborgenheit und die Gespräche über Werte und richtiges Verhalten bieten, die der Unsicherheit entgegen wirken würden.
Wenn die Menschen das Gefühl haben, dass sie niemandem mehr trauen dürfen und sie obendrein meinen, dass sie selbst mit dem Wandel nicht mehr Schritt halten können („Ich kenn mich gar nicht mehr aus!“), und obendrein ihre persönliche Lage schwieriger wird (Lohndumping, unfreiwillige Teilzeitarbeit), dann werden die Menschen unsicher.
 
Demokratie wird unattraktiv
Scheint es eine Chance auf politischen Wechsel zu geben (wie etwa in Baden-Württemberg unter Mappus), dann wählen die Menschen diese Alternative. Scheint es keine echte Alternative zu geben, dann geht man nicht mehr zur Wahl und fühlt sich dennoch von der Politik verraten.
Es liegt dann nahe, dass man ein anderes politisches System herbei sehnt, in dem die Regeln wieder gelten und sich alle dran halten (sie sollen ja wieder Halt geben). Man sehnt sich nach Menschen, von denen man annimmt, das sie es ehrlich meinen und tun, was sie sagen. Wenn man dann noch wenig Ahnung von Geschichte und politischen Zusammenhängen hat, dann fragt man sich, ob nicht eine Diktatur nötig sei, um all die Unzuverlässigen im Lande los zu werden, und mit ihnen am Liebsten auch alles Fremde, was einen unsicher macht. Kurz man wird emotional zum Kind und wünscht sich eine starke Vaterfigur, die alles in Ordnung bringt. Wenn dann jemand auftritt und verspricht, dass er genau das tun werde, was die Leute herbei sehnen, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass dieser Mensch viel Zustimmung und bei Wahlen auch viele Stimmen bekommt.
Bei Trumps Wahl konnte man beobachten, dass es vielen Menschen nicht auffällt, wenn jemand heute das Gegenteil von Gestern verspricht, oder lügt, um den Leuten nach dem Munde zu reden. Das ist nicht so verwunderlich, denn wenn einen die herrschenden Umstände schon überfordern, dann fehlen Kraft und Zeit für eine kritische Auseinandersetzung mit den Vorgängen in der Gesellschaft und erst recht mit jemand, auf den man seine Hoffnung setzt, weil er verspricht alles anders machen zu wollen.
 
Verwöhnen führt zu einem unrealistischen Selbstbewusstsein
Dabei dürfte auch eine Rolle spielen, dass seit einigen Jahrzehnten sowohl in den Medien, als auch in der Wirtschaft, nicht mehr die das Sagen haben, die sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen, sondern jene, die zum eigenen Nutzen auf steigende Umsätze, Auflagen und Einschaltquoten setzen und deshalb nicht das tun, was der Allgemeinheit nutzen würde, sondern den Kunden, den Benutzer darüber bestimmen lassen, was produziert wird, oder in die Medien (Wunschkonzert, Hitparade) kommt. Das kann einerseits aus mathematischen Gründen nur Mittelmaß sein, führt aber andererseits zur falschen Vorstellung man sei fähig alle Entscheidungen selbst richtig zu fällen. Man sieht das unter anderem im Straßenverkehr, wo viele meinen, sie könnten die Regeln missachten, wenn es ihnen gerade passt. Dass sie damit zugleich die verabredeten Spielregeln (StVO) aufkündigen und sich und ihre Interessen über die Gemeinschaft stellen, ist ihnen meist nicht bewusst.
Die Unsicherheit vieler Menschen wird also von einem rasanter technischen und gesellschaftlichen Wandel gemeinsam mit einen Verlust an Verlässlichkeit bei Institutionen (BND, Bankenkrise, Medienkrise) gefördert, was durch deren persönlichen Erfahrungen, z.B. Verlust des vertrauten politischen Systems im Osten, oder Verlust des Arbeitsplatzes mit samt den Kollegen verstärkt werden kann.
Wer dem mit politischen Aufrufen oder Gegendemonstrationen begegnen will, unterschätzt das Problem: Die Offenheit für populistische Strömungen ist Folge einer tief sitzenden Unsicherheit und eines großen Vertrauensverlustes gegenüber dem Staat, der ja mal mit der These lockte, das niemand im Stich gelassen werde. Dieses Versprechen ist auch durch eine Wirtschaft zerstört worden, die Aktionäre für wichtiger hielt, als die Mitarbeiter, oder kurzfristige Gewinne wichtiger als dauerhaften Geschäftserfolg.
Angeheizt wird die Unsicherheit durch Medien, die wegen der Auflage, der Einschaltquote, oder Klick-Zahlen nicht mehr Einordnung und Nachdenklichkeit vermitteln, sondern die Mediennutzer mit emotionalen Fragen und starken Gefühlen zu fesseln versuchen, die natürlich die Unsicherheit verstärken. Wie sehr die so genannten „Sozialen Medien“ zur Unsicherheit beitragen, konnte man in München beobachten, als bei einem Amoklauf die halbe Stadt stillgelegt wurde, weil über diese angeblich „sozialen“ Medien Panik verbreitet wurde.
Vermutlich helfen würde:
  1. 1.Alle Entwicklungen auf ein Tempo bremsen, das es den meisten Menschen erlaubt Schritt zu halten, egal ob es sich um Technik handelt, oder um ethisch-moralische Debatten, ob man dies oder jenes darf und machen soll, oder lieber nicht.
  2. 2.Staat und Wirtschaft müssen durch Verlässlichkeit über einen langen Zeitraum das zerstörte Vertrauen wieder wachsen lassen, um Sicherheit zu vermitteln.
  3. 3.Bildung, die der Reifung der eigenen Persönlichkeit und der Stärkung der Identität dient, müsste vermittelt werden, damit jede und jeder seinen eigenen Wert erkennen kann. Die Inhalte dienen dabei in erster Linie der Reifung, z.B. das Erlernen von Sprachen dient dazu fremde Denkweisen und Kulturen verstehen und achten zu lernen.
  4. 4.Redlichkeit und Verantwortung müssen wieder selbstverständlich werden, weil sie Grundlagen einer funktionierenden Gemeinschaft und von Vertrauen sind.
  5. 5.Die Wirtschaft muss lernen, dass sie dem Allgemeinwohl zu dienen hat und nicht den Interessen einzelner.
  6. 6.Die Demokratie muss weiter entwickelt werden, so dass alle das Gefühl haben, dass man ihre Meinung hört, wenn sie sie äußern möchten und berücksichtigt, dass aber auch jene keine Angst zu haben brauchen, die sich dazu nicht fähig fühlen, egal, ob sie all ihre Kraft in Familie oder Beruf stecken, oder aber meinen, dass sie von Politik nicht genügend verstünden.
  7. 7.Die Gemeinschaft (alle Bürger) muss sich auf einige wenige wichtige Ziele einigen, die man vordringlich, behutsam und langsam anstrebt. Das würde sowohl die „Gruppen-Identität“, das „Wir-Gefühl“ fördern, als auch einen Fortschritt in die gewählte Richtung. Wenn alle das Gefühl hätten an diesem Fortschritt mitzuwirken, würde das auch der persönlichen Identität gut tun, weil man darin auch einen Sinn im eigenen Leben und in der Gemeinschaft erkennen könnte, wenn einem nicht Philosophie, Religion oder Anderes zu einem Sinn-vollen Leben verhelfen.
 
Das Bild oben zeigt eine Rast- und Tankanlage in Frankreich, deren Name (on the run) für Viele heute Programm ist „in Eile” .
Wie kommt es zum Populismus?
Was könnte man dagegen tun?
Carl-Josef Kutzbach
Mittwoch, 21. Dezember 2016