Falsche Ziele
Wieso so Vieles schief geht
 
Je weniger Menschenkenntnis jemand hat, umso abhängiger wird er von Bewertungen, Tests, Umfragen, Rangfolgen. Eigenes Urteilsvermögen wird durch die Urteile Anderer ersetzt. Dass diese vielleicht ganz andere Kriterien für ihre Urteile haben, fällt dabei häufig unter den Tisch. Deshalb wird in wissenschaftlichen Arbeiten immer auch die Fragestellung und der Versuchsaufbau beschrieben, damit man nachvollziehen kann, wie es zu den Ergebnissen kam und welche Aussagekraft sie haben.
Bei Firmen und Behörden holt man sich Berater von Außen, wenn man selbst nicht recht weiß, was tun, statt auf die Mitarbeiter und die Kunden zu hören. Dass diese Berater von dem Betrieb  noch weniger Ahnung haben, als man selbst, wird dabei oft vergessen; auch, dass sie selbst in zunehmendem Maße Blender ohne eigene berufliche Erfahrung sind, die irgend welche Glaubenssätze der Wirtschaftswissenschaften umsetzen und sich dazu einer Sprache bedienen, die durch unscharfe, oft englische Begriffe mehr verschleiert, als erklärt, weiß jeder, der sich ein wenig mit der Materie beschäftigt hat.
Als Beispiel möge „Shareholder Value” dienen, was letztlich bedeutet, dass die Mitarbeiter für ihre Leistung schlechter gestellt werden, als die Geldgeber (Aktionäre), die in keiner Weise der Firma und deren Wohlergehen verpflichtet sind und ihr Geld jederzeit abziehen, wenn es woanders noch mehr Rendite zu geben scheint. Derjenige, der für die Firma arbeitet und dem ihr Wohl auch aus eigenem Interesse am Herzen liegt, ist dabei der Dumme, während derjenige der so viel Geld hat, dass er damit spekulieren kann, hofiert wird. Nicht die Firma, die Mitarbeiter, die Produkte und die Kunden sind wichtig, sondern nur das Wohl derjenigen, die ihr Geld durch Spekulation vermehren wollen.
Nun kommt sicher der Einwand, dass erhebliche Mittel auch von Versicherungen „geparkt” werden müssen und die Versicherung, vielleicht auch ihr Kunde, um so mehr gewinnt, desto höher die Rendite der Unternehmen ist, bei denen das Geld geparkt wird. Damit wird das Geld aber nicht so eingesetzt, wie es volkswirtschaftlich sinnvoll wäre, sondern nur, wie es betriebswirtschaftlich Erträge bringt, was sehr of zu Lasten der Allgemeinheit geschieht, wie man bei vielen Gebäuden sehen und erleben kann, die von anonymen Investoren gebaut die Innenstädte verschandeln und die Nachbarn alle 25-30 Jahre (eben sobald sie abgeschrieben sind) mit Baulärm plagen, weil man sie sanieren, oder abreißen und neu bauen muss. Warum die Versicherungen nicht selbst wertvolle, gute Bausubstanz schaffen, die für die Bewohner und Nutzer, aber auch für die Gemeinde eine Wohltat sind? Da könnte man nach der Abschreibung nicht weiter Steuern sparen. Wieder ist schnell verdientes Geld wichtiger, als das Gemeinwohl.
Selbstverständlich wird auch der „Kollege” Computer, die Informationstechnologie als Helfer und Retter in der Not angesehen, statt selbst nachzudenken. Dass zum Beispiel die „Neuen Steuerungsinstrumente” die das Land Baden-Württemberg für 300 Millionen einrichtete, nur so gut sein können, wie das Verständnis der Programmierenden von den Funktionen der Landesverwaltung, wurde nicht bedacht.
Sowohl im Lande Baden-Württemberg, als auch in vielen großen Firmen wurde und wird mit erheblichem Aufwand und Software einer im Lande ansässigen Firma, täglich, monatlich, oder halbjährlich erfasst, wofür die Mitarbeiter wie viel Zeit aufwenden. Aber da schreibt natürlich niemand rein, dass er lange Privatgespräche geführt hat, weil etwa ein naher Verwandter schwer erkrankte, oder, dass er wegen einer Beziehungskrise, an die er oder sie ständig denken musste, kaum etwas geschafft hat. Von Zigarettenpausen, Pinkelpausen, dem – manchmal durchaus wichtigen und nützlichen – Schwätzchen mit anderen Mitarbeitern, schreibt natürlich auch niemand etwas auf, um nicht als Faulpelz, Drückeberger, Leistungsverweigerer oder gar krank und süchtig zu gelten.
Weil die Entwickler dieser Software diese zutiefst menschlichen Verhaltensweisen nicht berücksichtigten und die Mitarbeiter indirekt zur Unwahrheit anstifteten, schreiben die Meisten in Verwaltung und Wirtschaft fiktive Tätigkeiten auf und nicht das, was sie wirklich taten. Mangelnde Menschenkenntnis führt so dazu, dass die Führung der Betriebe ihre Entscheidungen auf Grund von Daten fällt, die mit der Realität nichts zu tun haben. Der Rechnungshof bescheinigte deshalb dem Ganzen bereits 2007 „geringen Nutzen”.
Es gibt viele Geschäftsführer, die Unternehmen „nach Zahlen” leiten. Da die Zahlen ähnlich erhoben werden, wie bei den neuen Steuerungsinstrumenten des Landes Baden-Württemberg, haben sie mit der Wirklichkeit wenig zu tun. Aber diese hoch dotierten Gewinnmaximierer glauben wohl ernsthaft daran, dass man durch „Malen nach Zahlen” Kunst erzeugen könne, bzw. auf Grund der Geschäftszahlen den Zustand der Firma erkennen und die für das Unternehmen richtigen Entscheidungen ableiten könne. An vielen Kliniken, z.B. Ulms Uniklinik, kann man sehen, dass die Wirtschaftlichkeit höher bewertet wird, als das Wohl von Mitarbeitern und Patienten. Das Betriebsklima ist in vielen Kliniken schwierig, weil die Mitarbeiter bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gehen, um die Patienten gut zu versorgen, obwohl immer mehr Personal abgebaut wurde.
Ähnliche Fehlentwicklungen lassen sich fast überall beobachten.
In den Einkaufsstraßen verschwinden alteingesessene Läden zugunsten von Ketten, die überall dasselbe anbieten und die wieder verschwinden, wenn der Laden nicht bestimmte Umsatzziele erreicht. Der Kunde kann sich also nicht darauf verlassen, dass er bei einem Garantiefall den Laden noch vorfindet, geschweige denn zu seinem Recht kommt. Außerdem muss er sich immer wieder mit neuen Geschäften befassen, kann also nicht über die Jahre Vertrauen zum Laden und seinen Mitarbeitern aufbauen. Dementsprechend sinkt die Qualität der Waren, denn an diesen teuren Standorten kann man entweder auf lange Sicht nur mit hochwertigen und hochpreisigen Waren, oder aber mit hohem Durchsatz von billigen Waren überleben. Da sich immer weniger Leute auskennen, die Qualität von Waren erkennen und auch bereit und fähig sind diesen Preis zu zahlen, verdrängen Billigläden alteingesessene Fachgeschäfte. 'Masse statt Klasse' ist die Devise, die viele Einkaufsstraßen veröden lässt.
Aus dem gleichen Grund geht die Beratung der Kunden zurück, denn die kostet Geld. Da man aber den Kunden einbläut, dass „Geiz geil“ sei, braucht man sich nicht wundern, wenn Leute, die es nicht besser wissen und denen offenbar niemand die Zusammenhänge erklärte, meinen, dass es klug sei sich im Fachgeschäft beraten zu lassen und dann beim Billigsten zu kaufen. Das beschleunigte den Niedergang der Fachgeschäfte.
Dazu tragen aber auch Hausbesitzer bei, die aus einer Immobilie das Mögliche heraus zu holen anstreben, statt zu bedenken, dass Mietersuche, Mieterwechsel und Umbauten ebenfalls Kosten verursachen. Wobei Umbauten sich wegen Lärm und Dreck auch auf die Umsätze der Geschäfte rings herum auswirken. Auch diese Hausbesitzer sind vom Geist des „geilen Geizes” infiziert.
Es geht in vielen Fällen darum möglichst rasch Geld zu verdienen. Es geht nicht mehr darum seinen Mitmenschen einen guten Dienst zu leisten, nicht mehr darum ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft zu sein, dem auch Konkurrenten Anstand und Gemeinsinn unterstellen. Nein, Egoismus hat den Gemeinsinn verdrängt, was selbstverständlich jedes Gemeinwesen, egal ob Familie Freundschaft, Betrieb, Ort oder Land beschädigt. Es fehlt das Bewusstsein dafür, dass es eine Balance geben muss, zwischen eigenen Interessen und den Interessen anderer. Oder, wie es ein Denker ausdrückte: „Meine Freiheit endet, wo die Freiheit eines Anderen beginnt.” Ohne diese Balance zwischen den einzelnen Menschen und zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft leidet einer, einige oder das Ganze. Warum soll die Gemeinschaft auf den Einzelnen achten, wenn der Einzelne nicht auch auf die Gemeinschaft achtet? Ohne diese Balance kommt es zum Kampf aller gegen alle und zur Diktatur der Stärksten.
Sowohl die Geld-gierigen Hausbesitzer, als auch die dummen „Geiz-ist-geil”-Gläubigen schaden dem Allgemeinwohl, weil sie einen eigenen kurzfristigen Vorteil höher bewerten, als den Nutzen ihres Handelns für die Gemeinschaft. Beide tragen zur Verödung der Ortskerne bei, zur Verringerung der Vielfalt des Angebotes und zur Senkung der Qualität von Waren und Dienstleistungen. Und sie fördern die Angst, die sowohl durch die Schnelllebigkeit, als auch durch die Werbung gefördert wird, zu kurz zu kommen, wenn man nicht sofort seinen Vorteil ausnutzt. Dass die dauernde Hetze, die Schnäppchenjagd auch der eigenen Gesundheit schadet, wird nicht bedacht, denn es handelt sich nicht um ein Jagdfieber, das man in einem begrenzten Zeitraum erlebt und von dem sich hinterher wieder erholen kann, sondern um einen Zustand ständiger Anspannung und Erregung.
Dasselbe geschieht in den Medien, die es nicht mehr darauf anlegen dem Mediennutzer einen möglichst guten Dienst, möglichst solide Informationen zu liefern (den Aspekt der Unterhaltung lasse ich hier mal beiseite), sondern sie versuchen den Nutzer zu fesseln, ihn zum Dranbleiben, zu weiteren Klicks zu bewegen, indem sie ihn emotional ansprechen (Infotainment), ihn zu überreden, zu überzeugen, zu überrumpeln versuchen, statt ihm die freie Wahl und das eigene Denken zu lassen. Geradezu pervers der Slogan einer Boulevard-Zeitung „Bild Dir eine eigene Meinung!”, die mal titelt „Wir stehen zu Guttenberg” und ihn Tage später fallen lässt. Bei Funk und Fernsehen geht es nur noch um die Quote, also wiederum um 'Masse statt Klasse'. Je mehr Leute einschalten, desto besser wird die Sendung, der Sender beurteilt. Das führt logischer Weise zu einem langweiligen und an den Massengeschmack angepassten Angebot, mit dem man - nebenbei bemerkt - auch die höchsten Werbeeinnahmen erzielen kann.
Vor allem die öffentlich rechtlichen Sender der ARD müssen sich fragen lassen, ob sie nicht ihren Auftrag als „Vierte Gewalt” (neben Gesetzgebung, Rechtsprechung und ausführender Gewalt, z.B. Polizei) verraten, wenn sie dem vermeintlichen Publikumsgeschmack hinterher rennen, statt all jene Themen und Fragen anzubieten, die für das Wohl der Gesellschaft wichtig wären und wozu Journalisten auf Grund von Menschenkenntnis und umfangreicher Bildung eigentlich fähig sein sollten. Statt dessen läuft man den angeblichen Wünschen der Nutzer hinterher und macht sich zum Sklaven von Schnelligkeit, Moden und Wirtschaftsinteressen.
Aber auch die öffentlich rechtlichen Sender haben in der Führung Menschen, die ihrem eigenen Urteil nicht trauen, die ängstlich sind, weil sie ihre Beschränktheit ahnen und die sich deshalb durch Berater von Außen und durch umfangreiche Dokumentation absichern wollen. Dass diese Berater, weil sie es nicht besser wissen, dann meinen, man könne eine Rundfunkanstalt mit einem öffentlichen Auftrag, also einer sozialen Pflicht, genau wie ein privatwirtschaftliches Unternehmen wirtschaften lassen, wäre ja noch nicht schlimm, wenn nicht die Leitenden das völlig kritiklos und brav übernehmen würden, statt sich mit dem in den Sendern und ihrem Umfeld (freie Journalisten, freie Medienschaffende) vorhandenen Wissen und Können auf ihre Aufgabe zu besinnen, der Demokratie durch solide Informationen eine Diskussionsgrundlage zu bieten.
Falsche Ziele (Masse, statt Klasse; rasch reich werden; Gewinn, statt Nachhaltigkeit; Schnelligkeit, statt Sicherheit; Quote statt Dienst am Gebührenzahler; Geld statt Glück) führen den Einzelnen und die Gemeinschaft in die Irre. Die Gefahr auf falsche Ziele zu setzen, wächst in dem Maße, in dem es Führenden an Lebenserfahrung und Menschenkenntnis fehlt. Dabei erschwert die zunehmende Geschwindigkeit der Veränderungen allen Menschen das Verstehen und Durchdenken dessen, was sie tun. In vielen Fällen geht es längst nicht mehr um Inhalte, sondern um das Aufrechterhalten einer Fassade, hinter der längst der Verfall eingesetzt hat. Je weniger Menschenkenntnis jemand hat, umso abhängiger wird er von Bewertungen, Tests, Umfragen, Rangfolgen. Eigenes Urteilsvermögen wird durch die Urteile Anderer ersetzt. Dass diese vielleicht ganz andere Kriterien für ihre Urteile haben, fällt dabei häufig unter den Tisch. Deshalb wird in wissenschaftlichen Arbeiten immer auch die Fragestellung und der Versuchsaufbau beschrieben, damit man nachvollziehen kann, wie es zu den Ergebnissen kam und welche Aussagekraft sie haben.
 
Ein veralteter Wegweiser im Stuttgarter Killesberg-Park. Nur die Freilichtbühne existiert in Wirklichkeit noch.
 
 
Carl-Josef Kutzbach
Mittwoch, 29. April 2015