Neigung und Pflicht
Leben und Konsequenz
 
„Entweder man lebt, oder man ist konsequent.“ behauptete Erich Kästner. Schiller beschäftigte sich in seinem Text „Über die Anmut“ mit „Neigung und Pflicht“. Er versuchte Beides zu vereinigen, was ihm aber nicht überzeugend gelang. Denn im Grunde geht es um ein Gegensatzpaar: „Lustprinzip“ und „verdammte Pflicht und Schuldigkeit“, das in Deutschland erheblichen Schaden angerichtet hat, weil man seine Natur nicht verstand.
Bleiben wir bei Schillers Begriffen: Neigung und Pflicht, weil sie am wenigsten mit Vorstellungen aus dem Alltag belastet sein dürften.
Wenn ich morgens meiner Neigung folge, mich in den Tag hinein stürzte, bleibt mein Bett ungemacht. Entweder mache ich es im Laufe des Tages noch, oder aber ich muss mich am Abend in ein ungemachtes Bett legen.
Dieses kleine Beispiel zeigt, dass man seiner Neigung folgen kann, dass das aber häufig mit Folgen verbunden ist, die man unter Umständen weniger schätzt. So betrachtet ist die Frage, ob ich morgens mein Bett mache eine Frage der Neigung. Nämlich ob meine Neigung mich in den Tag zu stürzen mir wichtiger erscheint, als meine Neigung mich gerne in ein schön gemachtes Bett zu legen.
Je nachdem, welche Neigung mir wichtiger ist, entsteht daraus unter Umständen eine Pflicht. Wenn ich nämlich abends mich unbedingt in ein schön gemachtes Bett legen möchte, dann muss ich am Morgen, oder im Laufe des Tages dieses Bett schön machen.
So kann aus einer Neigung durch Nachdenken eine Pflicht werden. So kann aus einem Gefühl eine verstandesmäßige Entscheidung werden. Insofern sind Neigung und Pflicht durchaus miteinander verbunden. Aber die Neigung folgt mehr dem Gefühl, während die Pflicht mehr dem Verstand folgt. Das Gefühl und Verstand häufig miteinander im Widerstreit liegen können, hat fast jeder schon erfahren und zum Beispiel zu Hesse in seinem Buch „Narziss und Goldmund“ dargestellt.
Neigung und Pflicht sind also eine Variante des alten Widerstreites zwischen Gefühl und Verstand. Wer da Schwierigkeiten hat, befindet sich damit durchaus in guter Gesellschaft.
Die Hirnforschung hat das Problem zusätzlich kompliziert gemacht, indem sie erkannte, dass bei jeder Wahrnehmung auch eine gefühlsmäßige Komponente eine Rolle spielt. Angst, Schrecken, Druck, Unangenehmes, Gefahr und der gleichen werden unter Beteiligung des Mandelkerns (Amygdala) im Gehirn gespeichert. Zum Beispiel wenn man sich die Finger an Feuer verbrennt. Auf der anderen Seite werden Erfolgserlebnisse, Beglückendes, Freude, Lust, Aha- Erlebnisse mithilfe des Nucleus Accumbens, einer anderen Hirnregion, gespeichert. Beides sind Vorgänge, die das Lernen fördern. Der Haken dabei ist, dass beim Erinnern auch die entsprechenden Gefühle wieder geweckt werden.
Das bedeutet: jede Wahrnehmung ist mit Gefühlen verknüpft und jedes wieder Aufrufen von Wahrgenommenen weckt diese Gefühle wieder.
Daraus folgt, dass wir eigentlich nie reine Fakten wahrnehmen, wie wir vielleicht mit dem Verstand meinen, sondern das alles Wahrgenommene auch eine gefühlsmäßige Tönung hat.
Wie mein Beispiel vom Bettenmachen schon zeigte, sind Gefühle, Wünsche, Neigungen ganz stark daran beteiligt Pflichten zu schaffen. Wenn ich ein gemachtes Bett haben will, dann muss ich es eben machen, oder jemanden anders darum bitten und im Gegenzug diesem Menschen eine Bitte erfüllen. Oder ich muss mit dem um gemachten Bett leben.
Was die Hirnforschung entdeckte war, dass es eine Wahrnehmung reiner Fakten nicht gibt, sondern, dass immer auch Gefühle mit im Spiel sind. Das bedeutet, solange es um eine Person geht und um deren Neigungen und Pflichten sich selbst gegenüber, werden Pflichten immer auch mit Neigungen zu tun haben.
Aber wie sieht das aus mit Schulpflicht, Aufsichtspflicht der Eltern, Steuerpflicht und dergleichen Pflichten in einer Gesellschaft? Solange Kirchen und Könige herrschten, konnten sie den Untergebenen, oder Unterlegenen Pflichten diktieren. In einer Demokratie sollten Pflichten – wie im Beispiel des Bettenmachens – aus  'Einsicht in die Notwendigkeit' (Hegel) entstehen.
Zwar wurde die Schulpflicht im Kaiserreich gegen den Willen vieler Eltern durchgesetzt, die auf die wertvolle Arbeitskraft der Kinder nicht verzichten wollten, aber es leuchtet ein, dass es einer Gesellschaft umso besser gehen kann, je besser Ihre Mitglieder lernen ihre eigenen Fähigkeiten zu entfalten.
Dass Eltern darauf achten, was ihre Kinder tun, war schon früher selbst verständlich, denn ein Unfall oder der Tod des Kindes bedeutete unnötigen Aufwand oder gar Verlust einer Arbeitskraft, die die Eltern im Alter unterstützen sollte.
Steuern und Abgaben sind sicherlich mehrere 1000 Jahre alt. Sie wurden anfangs vermutlich von Herrschern eingefordert. Es sind aber auch Fälle denkbar, bei denen eine Gemeinschaft von sich aus einem besonders begabten Mitglied etwas Gutes tat. Man kann sich vorstellen, dass ein Mensch der besonders begabt war andere Menschen zu heilen, oder ein Mensch der besonders geschickt war beim Anfertigen von Gegenständen von seinen Mitmenschen aufgefordert wurde sich mehr, als normalerweise üblich, damit zu beschäftigen und dafür von der Gemeinschaft mit Nahrung versorgt zu werden. Das wären dann weniger Steuern, als ein Beginn des Handels.
Steuern dienen im Grunde dazu Gemeinschaftsaufgaben zu bezahlen, oder durch Fronarbeit zu ermöglichen. Man denke beispielsweise an den Bau der Stadtmauern und deren Bemannung im Kriegsfall. Es leuchtet jedem ein, dass manche Dinge, die der Allgemeinheit dienen, auch von der Allgemeinheit, also von fast allen bezahlt werden müssen.
Daran ändert auch nichts, dass absolute Fürsten auf Kosten der Allgemeinheit prachtvolle Schlösser bauen ließen und damit den Gedanken, dass eine Steuer ein fairer Handel zwischen dem Einzelnen und der Allgemeinheit sein sollte, beschädigten.
Erst in jüngerer Zeit wurden Steuern auch dazu eingesetzt um Verhalten und Verbrauch zu steuern, indem man zum Beispiel Energie durch Steuern und Abgaben teurer machte. Das funktioniert, hat aber den Nachteil, dass der Begriff Steuer weniger eindeutig definiert ist.
Steuerhinterzieher meinten, an einem allgemeinen für normal gehaltenen Sport teilzunehmen und erkannten nicht (oder wollten es nicht erkennen), dass sie gegenüber der Allgemeinheit bei einem Handel den angemessenen Preis nicht zahlen wollten. Angemessen insofern, als sich die Steuerschuld in vielen Fällen – ideal wäre in allen Fällen – an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Menschen orientiert.
Wir haben es bei der Steuerhinterziehung auch um einen Ausdruck von Neigung und Pflicht zu tun. Die Steuerhinterzieher haben ihre Neigung das Geld behalten zu wollen höher eingeschätzt, als ihre Pflicht zum Wohle der Allgemeinheit beizutragen.
Neigung und Pflicht sind, wie die Hirnforschung schon erkannte, enger miteinander verwandt, als Schiller vielleicht dachte. Das zeigt ja auch mein Beispiel vom Bettenmachen. Aber es gibt noch eine andere Beziehung zwischen beiden: Gäbe es nur die Neigung, bliebe vieles ungetan. Gäbe es nur die Pflicht – so wie es Eichmann zu seiner Verteidigung behauptete (als er wegen nationalsozialistischer Verbrechen angeklagt war) – dann wäre der Mensch unfrei.
Das Neigungen zu Pflichten führen können, zeigte mein Beispiel. Daraus ergibt sich auch, dass eine Pflicht dazu dienen kann Neigungen folgen zu können.
Neigung und Pflicht sind aber auch ein Paar, das in seiner Gegensätzlichkeit wie Mann und Frau, groß und klein, hell und dunkel sich gegenseitig ergänzt. Welch ein Genuss kann es sein, trotz vorhandener Pflichten, einer Neigung nachzugehen! Wie viel leichter fällt uns eine Pflicht, wenn wir erkennen, dass sie einer Neigung dient, oder wir uns darauf freuen können, dass wir anschließend einer Neigung frönen dürfen. Neigung und Pflicht können sich also gegenseitig verstärken. Angesichts einer Pflicht kann das Verfolgen einer Neigung als größtmögliche Freiheit erlebt werden. Umgekehrt kann eine Pflicht als Mittel zur Verfolgung einer Neigung beherzt in Angriff genommen werden.
Man darf vermuten, dass es die Menschheit nicht so weit gebracht hätte, wenn Einzelne und jeder Einzelne nicht immer wieder mal ihren Neigungen nachgegangen wären. Wissbegier führte zum Forschen, Freude an Klängen zur Musik. Wissenschaft und Kultur verdanken der Neigung außerordentlich viel, aber ohne die Einsicht in die Notwendigkeit und die daraus entstehende Pflicht (etwa das an einer Forschungsaufgabe dranbleiben, oder ein Musikinstrument üben) wäre der Gewinn für die Menschheit geringer ausgefallen.
Das heißt das scheinbare Gegensatzpaar "Neigung und Pflicht" ergänzen sich ähnlich wie bei der Wahrnehmung Verstand und Gefühl. Insofern wird verständlich das Schiller versuchte daraus ein Ganzes zu machen. Es scheint ihm aber nicht klar genug geworden zu sein, dass man Neigung und Pflicht als These und Antithese sehen kann, die nur gemeinsam zur Synthese führen können.
Worin besteht denn dann das Problem mit Neigung und Pflicht?
  1. 1.Wir meinen Gefühl und Verstand sauber trennen zu können.
  2. 2.Wir meinen dem Gefühl zu folgen sei angenehmer.
  3. 3.Wir denken zu kurz und erkennen nicht, dass manche Pflichten notwendig, oder zumindest hilfreich sind, um seinen Gefühlen folgen zu können.
  4. 4.Wir wissen häufig nicht (und wir spüren das auch manchmal nicht), wann es besser ist dem Gefühl und wann dem Verstand zu folgen.
Daraus ergibt sich dass sich das Probleme mit Neigung und Pflicht sich eigentlich auf die Frage zurückführen lässt: Was sollte man wann tun?
Der Buddhismus behauptet, dass das Leid eine Folge von Unwissenheit sei. Das könnte auf Neigung und Pflicht zutreffen, wenn man davon ausgeht, dass das deutsche Wort 'Unwissenheit' in der Übersetzung für einen Begriff gebraucht wird, der sowohl einen gefühlsmäßigen, als auch einen verstandesmäßigen Mangel darstellen soll.
Ob wir das Gesicht eines Menschen mögen, entscheidet unser Gefühl aufgrund der Wahrnehmung innerhalb einer viertel Sekunde. In dieser kurzen Zeit haben wir wahrscheinlich noch gar keinen klaren Gedanken gefasst. Es gibt also Fälle, in denen das Gefühl dem Verstand überlegen ist. Sehr wahrscheinlich gilt auch das genaue Gegenteil und alle Varianten dazwischen. Gelänge es zu lernen, wann man welcher Mischung aus Gefühls-mäßigen und Verstandes-mäßigen Eindrücken folgen sollte dann ergäbe sich von selbst auch, wann man der Neigung nachgeben und wann man der Pflicht den Vorrang geben sollte.
Vermutlich haben sich viele Religionen und Weisheits-Lehren mit diesem Problem herumgeschlagen. Da es einen längeren Lernprozess erfordert, bleibt die Lösung unbefriedigend, denn es dürften nur wenige alte Menschen den Weg zu solcher Weisheit gefunden haben. In den Jahren zuvor bleibt nichts weiter übrig, als sich um das Erlernen dieser Balance zu bemühen. Das ist zwar schön und gut, aber für das Zusammenleben unbefriedigend.
Erich Kästner löst das Problem mit Gewalt, in dem er behauptet man könne nur eins von beiden tun, leben, oder konsequent sein. Das ist etwa so intelligent, wie wenn man von einem Bauern nur verlangen würde, dass er nur sät, oder nur erntet.
Die Pflicht hat aus zwei Gründen einen schlechten Ruf:
  1. 1.Sie wurde von Kirchen und Herrschern zu Gunsten der eigenen Interessen missbraucht (Absolutismus, Nationalsozialismus).
  2. 2.Da Pflicht sich häufig aus der Notwendigkeit (Nahrungsbeschaffung) ergab, erlebte man sie als eine Einschränkung der eigenen Freiheit.
Die Neigung dagegen (das Bauchgefühl, das Lustprinzip, die Faulheit) wird mit unmittelbar erlebbaren Ereignissen verknüpft.
Ob und wie gut die Balance zwischen Gefühl und Verstand, zwischen Neigung und Pflicht funktioniert, hängt also auch davon ab, wie viel Fantasie ein Mensch hat, ob er sich vorstellen kann, dass er durch das Erfüllen einer Pflicht sich später eine umso erfreulichere Neigung ermöglichen kann.
Im größten Teil der Menschheitsgeschichte gab es einen erheblichen Teil von Notwendigkeiten, die nur einen beschränkten Freiraum übrig ließen. Erst in jüngster Zeit gibt es in einigen Gesellschaften soviel Freiraum, dass es den Menschen schwer fällt etwas damit anzufangen. Es fehlt schlicht an Übung.
Kein Wunder dass in diesen Gesellschaften mit ihren verhältnismäßig großen Freiräumen viele Menschen Schwierigkeiten damit haben Neigung und Pflicht in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen.
Bei der Suche nach dem richtigen Verhältnis von Neigung und Pflicht sollte auch eine Rolle spielen, dass der Mensch, der einer Neigung (Musik, Kunst, Handwerk, Wissenschaft) folgen darf, auf dem Gebiete dieser Neigung oft zu Höchstleistungen fähig ist. Das bedeutet Gesellschaften sollten sich so organisieren, dass möglichst viele ihrer Mitglieder auf dem Gebiet ihren Neigungen folgen können, auf dem sie besonders talentiert sind. Damit einher geht aber auch die Verpflichtung des Einzelnen sich darum zu bemühen, die eigenen Schwächen in einem erträglichen Rahmen zu halten.
Um Missverständnissen vorzubeugen, es geht nicht darum sich keiner Verantwortung zu stellen und nur das Leben nach Lust und Laune zu genießen, sondern es geht darum dadurch Glücksgefühle zu erreichen, dass man seine individuellen Fähigkeiten in den Dienst der Allgemeinheit stellt und dafür von den Mitmenschen Anerkennung bekommt.
Die Balance zwischen Neigung und Pflicht ist also wie bei einem Mobile auch noch einmal mit der Balance zwischen dem Individuum und der Gesellschaft gekoppelt. Nur der, dem es gelingt seine für sich gefundene Balance mit den Bedürfnissen der Gesellschaft auszubalancieren, wird das größtmögliche Glück erleben.
Das erklärt vielleicht auch weshalb viele Künstler arm und unglücklich lebten, weil sie zum Beispiel ihrer Zeit voraus waren und deshalb die gerechtfertigte Anerkennung erst nach ihrem Tode bekamen. Hätte sich aber beispielsweise Rembrandt so geschäftstüchtig verhalten wie Mozart, wer weiß auf welche beeindruckenden Werke wir heute verzichten müssten. Also dieses Dilemma wird sich nicht völlig auflösen lassen.
Hätte sich Rembrandt anders verhalten wenn er eine große vielköpfige Familie hätte ernähren müssen? Und wieder wäre die Frage, auf welche Werke die Welt dann hätte verzichten müssen. Es wäre aber auch denkbar, dass Rembrandt durch eine glückliche Ehe und einen Brotberuf einen derartig beglückenden Malstil gefunden hätte, dass ihm schon seine Zeitgenossen schätzten, so dass er sich dann gut bezahlt der Kunst hätte widmen können. Wer weiß welche Werke und wie viele mehr wir in diesem Fall heute noch genießen könnten?
Das Beispiel zeigt, dass es in den seltensten Fällen um ein entweder oder geht, sondern darum das richtige Maß, die richtige Balance zu finden.
Bild:
Ein altes Luftschutzschachtgitter im Stuttgarter Westen aus dem 2. Weltkrieg. Die Luftschutzkeller zu denen solche Schächte führten und die die Menschen bei Bombenangriffen schützen sollten, wurden Pflicht, nachdem sich die Menschen in Deutschland mehrheitlich dem Nationalsozialismus zuneigten.
 
 
Carl-Josef Kutzbach
Mittwoch, 20. August 2014