Keine Lust
erwachsen zu werden
Kindliche oder kindische Gesellschaft?
 
„Wir wollen nicht erwachsen werden!“ war vor über 30 Jahren das bedenkenswerte Ergebnis einer Studie der Universität Eichstätt. Ungefähr 90 % der befragten jungen Menschen lehnten es ab die Bürden des Erwachsenenlebens auf sich zu nehmen, also Verantwortung, Pflichten, Selbständigkeit, für Andere (z.B. Kinder oder Eltern) da sein, selbst Entscheidungen zu treffen, kurz, den eigenen Lebensweg gemeinsam mit Anderen zu gestalten.
Nun gab und gibt es wohl immer Menschen, die Anleitung und Führung brauchen, wie ein Kind. Aber selbst, wenn man bei einem Teil der Befragten noch auf einen Sinneswandel und eine spätere Reifung hoffen darf, so sind sie alle jetzt Erwachsene, die unsere Gesellschaft prägen. Es scheint, das merkt man bereits.
Worin liegt das Problem?
Vereinfacht ausgedrückt passen Demokratie und Kindergarten nicht zusammen. Demokratie funktioniert nur, wenn die Mehrheit der Bürger ihre Bedürfnisse kennt und dafür auch eintritt.
Wie handeln Kinder?
Kinder dagegen schreien erst einmal, wenn ihnen etwas weh tut, oder nicht passt. Das ist in ihrem Alter der sicherste Weg um Aufmerksamkeit und Hilfe zu bekommen. Je jünger das Kind, desto weniger kann es selbst sagen, was ihm fehlt. Das Baby schreit, wenn es Hunger hat, müde ist, nass ist, oder irgend etwas sonst nicht gut ist. Das, was es plagt, soll sofort aufhören. Da das kleine Kind keine Vorstellung von Zeit hat, kann es auch keine Geduld aufbringen.
Später lernt das Kind zu sprechen und kann dann zumindest sagen: „Der Bauch tut weh!“ Das ist aber noch keine Diagnose, sondern kann Hunger, zu viel gegessen, etwas Schädliches gegessen, oder sogar Blinddarmreizung bedeuten.
Wieder einige Jahre später kann der Jugendliche (je nach Bildung) vielleicht sogar schon sagen, dass er einen Blauen Fleck, eine Beule bekommen werde, weil er sich angestoßen hat. Er kennt also schon Zusammenhänge und kann sie benennen.
Und noch ein paar Jahre später, wenn man en eigenen Körper schon besser kennt und auch das Denken weiter geübt hat, kann man vielleicht sagen: „Diese Schmerzen, dieses Gefühl kenne ich nicht und gehe vorsichtshalber zum Arzt.“
Bei großer Belastung wird fast jeder Mensch wieder zum egoistisch erscheinenden Kind, dem es ums bloße Überleben geht. Als Sanitäter lernt man, dass nicht unbedingt die am schwersten verletzt sind, die am lautesten schreien. Aber das Schreien kann in einer Notsituation die gleiche Funktion haben, wie beim Kleinkind: „Hilfe, ich kann mir nicht selbst helfen!“ Bei Katastrophen versuchen die meisten Menschen erst einmal sich selbst in Sicherheit zu bringen. Das scheint ein Überlebensmechanismus zu sein und nur wenige sind fähig und Willens zuerst an Andere zu denken. Auch Sanitäter und Helfer bei Katastrophen müssen üben einen kühlen Kopf zu bewahren und die Opfer möglichst rasch und nach Dringlichkeit zu versorgen, zum Beispiel einen bewusstlosen Schwerverletzten eher zu versorgen, als jemand der laut schreit, aber nicht so gefährlich verletzt ist.
Ich hatte vor einigen Monaten ein wunderschönes Erlebnis, als ein Professor in einer Rede vor vielen Psychologen, Psychiatern und Helfern darauf hin wies, dass wir alle in Notlagen zum kleinen Kind werden, das alles tut, um zu überleben. Da ging ein erleichtertes Aufseufzen durch den Raum. Offenbar kannten diese professionellen Helfer selbst auch das Gefühl, dass man am liebsten wegrennen und sich in Sicherheit bringen möchte und hatten sich vielleicht teilweise schon selbst deswegen Vorwürfe gemacht.
Menschen, die in Notlagen ruhig bleiben, die Übersicht bewahren, gezielt und wohl überlegt helfen, sind eine kleine Minderheit, die das oftmals lange geübt hat (Feuerwehr, Polizei, Sanitäter, Katastrophenschutz). Es handelt sich um eine Art erlerntes Heldentum, denn es gehört nicht nur eine gewisse Reife dazu, sondern auch das nötige Wissen, was wie zu tun ist. Kinder sind dazu normalerweise nicht in der Lage, obwohl auch Kinder manchmal Heldentaten vollbringen. Die Regel ist es nicht.
Wie handeln Erwachsene?
Im Idealfall verantwortungsbewusst, mitmenschlich, liebevoll und der Lage angemessen. Da mit das gelingen kann, braucht es eine ganze Reihe von Schritten, in denen man lernt erwachsen zu werden.
Es beginnt mit der Bindung des Säuglings an die Eltern (oder Bezugspersonen). Wenn die gut ist, dann kann das Kind vertrauensvoll und offen auf die Welt zugehen. Das ist wichtig, denn nur dann (wenn es nicht ständig ängstlich und misstrauisch ist) wird es mit anderen Menschen mitfühlen und dadurch gut lernen. Lernen ist das Herstellen von Beziehungen. In Beziehungen spielen Gefühle eine wichtige Rolle, etwa Vertrauen, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Freundlichkeit, sich auf Andere einlassen können. Gute Gefühle fördern das Lernen und schafft neue Beziehungen:
  1. 1.zwischen dem, was ich weiß und dem, was für mich neu ist.
  2. 2.zwischen dem, der mir die Neuigkeit überbringt, und mir (wieder muss ich vertrauen).
  3. 3.zwischen Nerven im Gehirn bilden sich neue Verbindungen.
  4. 4.durch das neu Gelernte verändert sich meine Beziehung zur Welt.
Es ist kein Wunder, wenn ein Kind, dass sich geborgen und geliebt fühlt sich auch beim Lernen leichter tut, als eines, das sich als unerwünscht, störend, ungeliebt, gar bedroht erlebt. Das heißt nicht, dass nicht auch dieses Kind lernen kann, aber es dürfte ihm in den meisten Fällen schwerer fallen.
Dann braucht ein Kind Vorbilder, damit es durch Nachahmen deren Rollen ausprobieren und erlernen kann (Spielen ist die wirksamste Form des Lernens, etwa beim „Familie spielen mit Puppenkindern“). Das sind zunächst die Eltern und nahe Bezugspersonen.
Später, wenn das Kind in Kindergarten oder Schule auch andere „Große“ sieht, sucht es sich auch da Vorbilder, denen es nacheifert. Bis dahin lernt das Kind vor allem durch Nachahmung.
Auf der nächsten Entwicklungsstufe (Pubertät) wird es besonders schwierig, denn das Kind entdeckt, wie ein Schmetterling, der aus der Larve schlüpft, sich selbst und die eigenen Persönlichkeit. Nur ist die anders als beim Schmetterling nicht fertig ausgebildet, sondern wird in vielen kleinen Schritten erarbeitet, etwa, indem man die Vorbilder, die man hatte in Frage stellt, indem man neue Wege sucht, um etwas zu tun, indem man sich fragt, wer bin ich und wofür will ich leben. Was ist mir wichtig, was nicht? Was kann ich schon, was will ich lernen? Erschwert wird das noch dadurch, dass nun auch noch das andere Geschlecht interessant wird, was für zusätzliche Verwirrung sorgen, aber auch ein Ansporn sein kann sich nicht mehr wie ein kleines Kind zu benehmen.
In Deutschland gilt man heute mit 18 als erwachsen, darf beim Militär töten lernen, den Führerschein machen, Geschäfte abschließen, wählen und heiraten. Bei den alten Römern galten Männer erst mit 25 als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft. Ob man annahm, dass sie sich erst einmal im Alltag bewähren sollten, dass sie erst einmal einen Beruf ergreifen sollten? Es macht zumindest nachdenklich, wenn die doch meist sehr praktisch denkenden Römer den jungen Menschen nach der Pubertät noch eine Zeit der Reifung zubilligten.
 Im Idealfall wäre ein Erwachsener fähig die Folgen des eigenen Tuns zu bedenken und dann auch so zu handeln, wie es für ihn, seine Mitmenschen und die gesamte Welt gut ist. Er wäre fähig auf die Frage „Warum hast Du so gehandelt?“ eine Antwort (verantworten) zu geben, die nachvollziehbare, triftige Gründe nennt, die mit dem Gemeinwohl zusammenpassen. Etwa dem Kantschen Imperativ entsprechend, der vereinfacht bedeutet, dass man andern nichts zufügt, was man selbst auch nicht zugefügt bekommen möchte. Kant forderte, dass man immer so handeln solle, dass die eigene Entscheidung so gut sei, dass man sie zu einem brauchbaren Gesetz für alle machen könnte. Wer so handelt (oder sich zumindest bemüht), ist vertrauenswürdig.
Was in verschiedenen Kulturen auch zum Erwachsenen gehört, sind Selbstbewusstsein und Selbstachtung. Man tut nichts, was diese beschädigen könnte.
Die Realität sah schon bei den Römern anders aus. Es gab schon damals Verkehrssünder und Unfälle. Es gab auch damals Verbrecher, die unfähig oder unwillig waren, sich wie Erwachsene  als nützliche Mitglieder der Gesellschaft zu verhalten. Das wird es wohl immer geben. Das erklärt auch, weshalb bei Jugendlichen Regelverstöße häufiger vorkommen; sie haben den Wert der Regeln noch nicht verstanden, oder probieren aus, wie weit sie die Regeln dehnen können. Gelingt es dem jungen Menschen klar zu machen, weshalb sein Verhalten falsch war und wofür Grenzen und Regeln gut sind, ist die Gefahr einer Wiederholung gering. Wird nur bestraft, besteht die Gefahr von Wiederholungen, die ins gesellschaftliche Abseits führen können.
Ein Grundgedanke des Christentums ist, dass jeder Mensch Fehler macht und daher auf die Vergebung seiner Mitmenschen (und Gottes) angewiesen sei. Eine tröstliche und realistische Sicht der Welt, denn niemand ist vollkommen. Große Künstler sind häufig als Mitmenschen eher schwierig. Jeder Mensch hat seine Stärken und Schwächen. Wenn alle ihre Stärken nutzen und ihre Schwächen zurück drängen, entstünde die beste aller möglichen Gesellschaften. Erwachsen sein bedeutet auch, sich darum zu bemühen.
Welche Werte bestimmen den Alltag?
Alle Autohersteller haben bei den Abgasen geschummelt und die deutsche Politik hat beide Augen zugemacht und nichts dagegen unternommen. Es war ebenfalls die Politik, die Banken erlaubte mit Methoden wie in Spielkasinos zu wetten und die Banken dann mit 290 Milliarden rettete. Dafür sollen die Bankkunden den Banken jetzt auch noch die weit gehend automatisierte Kontoführung bezahlen, wie etwa bei der Postbank ab 1. 11. 2016. Ausnahmen gibt es für junge Leute, die man als Kunden gewinnen will, und für Einkommen ab 3000 € monatlich. Getreu dem Bibelmotto: „Wer hat, dem wird gegeben.“ Die Banken konnten sich dank guter Kontakte zur Politik darauf verlassen, dass man sie nicht fallen lassen würde, weil es ihnen gelungen war sich scheinbar unersetzbar zu machen.
Bei einigen Skandalbaustellen (Hamburger Elbphilharmonie, Berliner Flughafen, Stuttgarter Bahnhofsumbau S21) stiegen die Kosten, weil die öffentliche Hand in Deutschland den billigsten Anbieter nehmen muss (In der Schweiz bekommt der keinen Auftrag, sondern der Zweitbilligste.). Das Ergebnis ist, das Firmen der Baubranche von Vornherein zu geringe Kosten angeben, die dann später durch „Nachträge, Sonderwünsche“, oder ähnliche Titel auf ein Niveau angehoben werden müssen, bei dem die Firma noch etwas verdient. Das weiß eigentlich jeder, der sich mit der Materie befasst, nur Bahn und Politik offenbar nicht. Ein Beispiel:
In Stuttgart wurde die Verlegung des 16-gleisigen Hauptbahnhofes unter die Erde in einen 8-gleisigen Haltepunkt 1994 vorgeschlagen und sollte zunächst samt 60 km Tunnelstrecken knapp eine halbe Milliarde kosten, denn genau so viel wollte man durch Grundstücksverkäufe erlösen. Der neue Bahnhof sollte 2008 fertig sein. Dass er heute laut Bahn knapp 7 Mrd. Euro kosten wird und vielleicht 2021 oder später fertig wird, konnte angeblich niemand vorhersehen. Nur die Kritiker behielten stets mit ihren Vorhersagen recht und liegen jetzt bereits bei 10 Mrd. Wen wundert es da, wenn die Stuttgarter Bürger, die sich gegen dieses miese Spielchen wehrten (auch weil der alte, nun amputierte Bahnhof jahrzehntelang das Wahrzeichen der Stadt war), die Bahn als „Lügenpack“ beschimpften? Was für ein fragwürdiges Beispiel gab die Bahn allen jungen Menschen, die von Eltern und Lehrern dazu angehalten werden ehrlich und redlich zu sein?
Ein schlechtes Beispiel gab auch Nokia, das in Bochum seine Produktion trotz schwarzer Zahlen schloss, weil sie angeblich nicht wirtschaftlich war, sie nach Osteuropa verlegte, dort ein paar Jahre bei niedrigeren Löhnen weiter produzierte und sich dann wie eine Heuschrecke, wenn alles abgefressen ist, wieder weiter zog.
Es gibt viele solcher schlechten Beispiele, die mit den alten Handelsgrundsätzen von „Treu und Glauben“ nicht vereinbar sind. Dass ein guter Kaufmann stets auch das Interesse seiner Kunden im Auge haben muss, damit sie wieder kommen, wurde mittlerweile vergessen.
Die Medien zeigen unfreiwillig, was schief läuft
Ein besonders lehrreiches Beispiel sind die Medien. Wegen der Rolle, die sie im Dritten Reich als Propaganda-Sprachrohre gespielt hatten, bestanden die Besatzungsmächte nach dem Krieg darauf neben der privatwirtschaftlichen Presse (die ihre wirtschaftlichen Interessen hat und auch eine Meinung haben darf), über Gebühren finanzierte Öffentlich-Rechtliche Radiosender zu installieren, die - so objektiv wie möglich - alle Bürger mit den wesentlichen Informationen versorgen sollten. Zugleich waren sie eine unabhängige Konkurrenz zu den privaten Medien und setzten damit auch Qualitätsstandards. Die Siegermächte bezweckten eine „balance of power“ eine Machtbalance, die auch der gegenseitigen Kontrolle dienen sollte. In Zeitungen erschienen Kritiken über Radio und Fernsehen und dort bekam der Nutzer über Sendungen, die Kommentare der Presse zusammen fassten eine Vorstellung von der Vielfalt der Meinungen.
Diese Konstruktion wurde bei der Einführung von Privatfunk und Privatfernsehen aufgegeben, denn offensichtlich hatte die Politik mehr den Einflüsterungen der Firmen gelauscht, die die nötige Technik verkaufen wollten, als über die Auswirkungen auf Demokratie und Medienlandschaft nachzudenken. Boulevardblätter müssen sich am Zeitungsstand verkaufen, Tageszeitungen müssen ihre Abonnenten behalten. Beide müssen so viele Leser an sich binden, dass sie mit Werbeanzeigen genug verdienen, so dass sie Gewinn machen.
Diesen Druck haben die Öffentlich Rechtlichen Programme nicht, obwohl auch sie sich vor Gremien rechtfertigen müssen, ob das, was sie leisten die Gebühren wert ist. Aber ihr Hauptzweck ist weder das Geld-verdienen, noch das Verbreiten der eigenen Meinung. Sie sollen auch für Minderheiten Angebote machen, damit der Jazzfan genau so zufrieden ist, wie der Klassikliebhaber, der Aktionär genau so wie der Sportbegeisterte. Außerdem ist es Aufgabe der ÖR Themen aufzugreifen, die für die Gesellschaft wichtig sind und sie zur Debatte zu stellen.
Das kann im Falle der Aufdeckung von Fehlentwicklungen durchaus als „Wächteramt der Medien“, als Vierte Gewalt im Staat gesehen werden. Darüber hinaus sollte die tägliche Berichterstattung alles Wichtige erfassen und die Unterhaltung möglichst für jeden Geschmack etwas bieten. Die Orchester und Bands vieler Sender, sowie Veranstaltungen an denen sich die Sender beteiligen, bereichern vielerorts das kulturelle Leben. Auch dafür werden die Gebühren genutzt.
Die Einführung von Privatfunk und Privatfernsehen bedeutete, dass es nun Programm gibt, die keinen so hohen Ansprüchen genügen müssen, sondern denen es vor allem um das Geld-verdienen mit Hilfe der Werbung geht. Der Nutzer soll im Idealfall von Morgens bis Abends dran bleiben, während er bei den ÖR die Wahl hat(te) einzuschalten, was ihn interessierte. Die neuen Programme mussten die Nutzer fesseln, ohne, dass die das merkten. Also spielte man die Musik, die in den Hitparaden erfolgreich war, verbreitete ständig gute Laune, erzählt wenig und wenn am Besten nichts, was nachdenklich machen könnte, denn der Nutzer soll ja dran bleiben. Und in jedem Fall durfte die Produktion nicht viel kosten, denn man muss ja Gewinn machen.
Soweit war das bereits teilweise aus den Printmedien bekannt. Aber aktiv Zeitung-lesen ist etwas Anderes als bequem nebenher Radio zu hören, oder beim Bügeln fernzusehen. Nun weiß man aus der Schule, dass der „kleinste gemeinsame Nenner“ beim Teilen die größten Ergebnisse gibt (100 : 5 = 20; 100 : 2 = 50). Bei Medien bedeutet das: Je niedriger das Niveau, desto mehr Menschen können dem Programm folgen, desto höher kann die Einschaltquote sein. Das ist natürlich weniger anstrengend, als wenn man anspruchsvolle Sendungen aufmerksam verfolgt. Und außerdem reizte anfangs natürlich das Neue. Dann drohte aber die Politik den Öffentlich- Rechtlichen Sendern, dass sie sich in Zukunft auch an der Einschaltquote messen lassen müssten. Der Kabarettist Matthias Richling prägte darauf hin den Begriff „Einfaltsquote“.
Infolgedessen fanden bei den ÖR-Sendern Reformen statt, die jedem Programm eine klare Zielgruppe zuordneten (auch wegen erhoffter Werbeeinnahmen) und ihm eine „Programmfarbe“ verpassten, dem entsprechend die Musik auswählten und alles, was überraschen oder gar stören könnte, aus dem Programm verbannten. Nicht mehr bunte, anregende Vielfalt und für jeden etwas, war das Ziel, sondern das Übertrumpfen der Privaten um eine höhere Einschaltquote und mehr Werbeeinnahmen zu erzielen. Das war ein völliger Bruch mit den eigentlichen Aufgaben der ÖR zugunsten der Kommerzialisierung, die von den Privaten voran getrieben wurde. Nicht mehr die Inhalte des Programmes, sondern sein Erfolg beim Publikum war plötzlich wichtig. Nicht mehr das, was kundige Redakteure als das Wichtigste und Wesentlichste für die Bürger befunden hatten, kam ins Programm, sondern das, was die Nutzer am Besten unterhielt. Der Laie ersetzte den Kundigen als Programmmacher.  
Dieses Muster: „Wir machen nur, was die Kunden wollen!“ bedeutet sich selbst von jeder Verantwortung frei sprechen. Man braucht sich dann auch viel weniger Mühe geben, denn die Kunden entscheiden ja, was sie wollen. Ob das sinnvoll ist, wohin das führt, ob man das verantworten kann, spielt alles keine Rolle mehr.
Es kam hier zu einer fragwürdigen Allianz von bequemen Mediennutzern und von bequemen Medienmachern. Aus Nachrichten wurde Infotainment, eine Mischung aus Information und Unterhaltung. Bei Beiträgen war nicht mehr der Inhalt so wichtig, sondern dass sie durch Geräusche, Klänge, Musik und möglichst viele Stimmen den Eindruck erweckten das pralle Leben zu spiegeln. Die Darbietung wurde wichtiger, als der Inhalt.
Dass das auch für das Fernsehen gilt, kann man daran ablesen, dass sowohl ZDF, als auch ARD jeweils rund 30 Millionen Euro in ihre neuen Nachrichten-Sendestudios gesteckt haben.
Blender überall
In vielen Bereichen der Wirtschaft und des Alltags liefen ähnliche Entwicklungen ab. Bei Aktiengesellschaften wurden die Zahlen im Geschäftsbericht, ja sogar im Quartalsbericht wichtiger, als die tatsächliche Lage der Firma (Zahlen erwecken den Anschein von Klarheit und sind auch Leuten zu vermitteln, die von der Sache keine Ahnung haben). In vielen Wirtschaftszweigen, aber auch in der Politik stiegen Blender rasant auf. Der Gebrauch der Ellenbogen wurde wichtiger, als die fachlichen Kenntnisse. Wer nicht mehr weiter weiß, holt sich Berater ins Haus, die unter Umständen weitgehende Entscheidungen treffen, ohne jedoch dafür zu haften. 1000 oder mehr Euro je Stunde kassieren sie in jedem Fall und sind dann, wenn es schief geht, fein aus dem Schneider.
Auch im persönlichen Bereich spielen Aussehen und Statussymbole eine immer wichtigere Rolle. Das Alter, Krankheit und Tod werden verdrängt, man will ewig jung, dynamisch und begehrenswert sein. Dass damit auch die Erfahrung der Älteren „entsorgt“ wurde, wird übersehen. Es wurde den Leuten eingeredet, sie müssten um Erfolg zu haben, nur jederzeit bereit sein überall zu arbeiten und sich selbst als Marke darzustellen. Nun braucht eine Marke etwas Besonderes an dem man sie erkennt. Sascha Lobo etwa erkennt man an seiner roten Hahnenkamm-Frisur. Auch Fussballer pflegen ein intensives Verhältnis zum Friseur, damit man sie auch auf der gegenüberliegenden Spielfeldseite, oder im Fernsehen, an ihrer Frisur erkennen kann. Dahinter steckt der kindliche Wunsch: „Ich will etwas Besonderes sein!“ Piercing, Tätowierungen, Schminke, ausgefallene Kleidung (z.B. besonders freizügig, gewagt, oder ungewohnt (Korsage als Oberbekleidung, Dirndl und Lederhosen)), Schmuck, Funktionsarmbänder oder anderes sollen als Blickfang dienen, um auf die eigene Person aufmerksam zu machen.
Nun braucht jeder Mensch Aufmerksamkeit, Achtung und Zuwendung seiner Mitmenschen, um daraus zu lernen, wer er ist und wie er sich bei Anderen verhalten sollte. Das ist ein ständiges zwischenmenschliches Geben und Nehmen, das gut tut und reifen lässt. Der Blender dagegen versucht, wie jeder Hochstapler, sich einen Vorteil auf Kosten anderer zu verschaffen. Er verweigert sich dem zutiefst menschlichen Geben und Nehmen. Das geht vielleicht so lange gut, wie seine Täuschung gelingt. Sobald er aber auf jemand stößt, der sich wirklich auskennt, der tatsächlich weiß wovon er spricht und der wirklich kann was er tut, dann wird es kritisch. Wenn ein Mensch außer Äußerlichkeiten (Mode, Schminke, Statussymbole, Worthülsen) nichts hat, was ihm Halt gibt und für andere interessant macht (Kenntnisse, Erfahrungen, Hobbys,  Liebhabereien, Sport, Religion, Ziele), dann hat er seinen Mitmenschen nichts zu bieten, dann ist er langweilig. Dann wendet man sich rasch ab und sucht interessantere Gegenüber. Diese Erfahrung, dass man eigentlich nichts zu bieten hat, spüren manche Blender und es macht ihnen Angst, denn es stellt ihr Selbstbild als unbesiegbare Macher in Frage.
Es gibt weitere Bereiche, in denen man Hinweise darauf findet, dass es in der heutigen Gesellschaft an Erwachsenen mangelt und zu viel kindliche (also unreife) und kindische (die sich dem Reifen verweigern, oder ihre Reife leugnen) Menschen gibt. Man kann z.B. das Rasieren von Achsel- und Schamhaaren, als Wunsch verstehen noch mal ein unschuldiges, aber auch verantwortungsloses Kind sein zu wollen. Ebenso die Mode sich eine Glatze scheren zu lassen. Der Dreitagebart stünde dann als „kühnes“ Zeichen, dass man sich jetzt der Pubertät zu nähern wagt.
Auch das überall Essen und Trinken lässt sich als kindlich deuten. Kinder haben keine Geduld zu warten, wollen sofort weiter spielen, wollen sofort Hunger und Durst gestillt haben. Es gibt Restaurants, die extra auf der Speisekarte darauf hin weisen, dass es bei großem Andrang länger dauern kann. Kinder sehen so einen offensichtlichen Zusammenhang auch nicht, sondern spüren nur das eigene Bedürfnis. Kinder, denen man es nicht beigebracht hat, lassen ihren Müll überall fallen, sind sie über 18 parken Unreife Motorrad oder Auto ohne Rücksicht auf die Mitmenschen oder die Straßenverkehrsordnung. Dahinter steckt der gleiche Gedanke: „Ich brauch's jetzt nicht mehr; weg damit!“
Essen und Trinken sollen gut aussehen und kräftig schmecken. Geschmacksverstärker helfen nach, viel Zucker und grelle Farben (Aperol, Campari, Curaçao). Je weniger selbst gekocht wird, desto mehr muss man unterwegs essen, zum Essen gehen, oder zumindest Kochsendungen anschauen. Haushalt als Abenteuer, wer hätte das noch vor 50 Jahren gedacht?
Wenn etwas schief geht, etwa durch eigene Unachtsamkeit, dann wird die eigene Schuld ausgeblendet. Schuld sind immer die Anderen und denen versucht man dann sie auch zuzuschieben, wie ein ertapptes Kleinkind. Das sieht man bei nicht nur amerikanischen Gerichtsprozessen, in Leserbriefen, aber auch bei der Verachtung von Lehrern, Politikern, Handwerkern, der sogenannten Eliten und der Medien („Lügenpresse“). Typisch ist auch, das man den kritisiert oder gar anpöbelt, der einen auf Fehlverhalten hinweist, egal ob Autofahrer mit einer obszönen Geste, oder der Baumfrevler, der meint im Park seinen Namen in die Rinde schnitzen zu müssen und nicht verstehen will, weshalb er das lassen soll.
Ständige Ungeduld
Weil Kinder alles sofort haben wollen, muss natürlich alles im Laden bereit liegen, oder aber der Versand die Ware binnen Stunden liefern. Der Paketbote drückt dann gerne mal auf alle Klingeln zugleich, damit ihm möglichst schnell irgend jemand das Paket abnimmt und er weiter hetzen kann. Und alles muss natürlich billig sein („Geiz ist geil“), weil man den Wert der Dinge sowieso (noch?) nicht kennt. Die Warenkunde geht seit etwa 100 Jahren stark zurück. Aber so lange will man die Dinge auch gar nicht besitzen. Beim Sperrmüll sieht man, dass selbst die Mühe des Zerlegens der Selbstbaumöbel den großen Kindern zu viel ist. Sie stellen alles einfach auf die Straße. Die Müllmänner (wie früher die Mutter) werden's schon für einen klein machen.
Nachhaltige Baukunst?
Das gleiche Bild bei Gebäuden. Selbst wenn sie groß und stabil da stehen und noch gar nicht alt sind, werden sie abgerissen und durch eine Art Betonregal mit Verkleidung ersetzt, das ebenfalls nicht auf lange Standzeit ausgelegt ist. Nach 30 Jahren ist Schluss, weil dann die Steuervorteile auslaufen. Solcher Umgang mit der Arbeit Anderer ist menschenverachtend. Ein Bauarbeiter erzählte mir beim Abbruch eines Gebäudes, dass auf dem Dach noch 15 Jahre Garantie drauf wären; er habe es einst selbst montiert. Dass viele Gebäude wenig Architektur und Kunst aufweisen, aber dafür vom Wunsch des Bauherren künden seine Macht zu demonstrieren, ist ebenfalls kindisch („ich will aber!“). Frühere Bauherren bemühten sich ein Gebäude für Jahrhunderte zu schaffen, das ins Viertel passt und daher auch von den Nachbarn und Besuchern gelobt wurde. Das Gebäude war eine Art einladender Visitenkarte. Heute sind viele Gebäude abschreckende Machtdemonstrationen. Die Nachbarn, die Bauarbeiter und die Passanten leiden unter den – oftmals unnötigen – Baustellen. Für viele Gebäude gäbe es bei einigem Nachdenken eine sinnvolle weitere Nutzung.
Aber die großen Kinder wollen etwas Neues. Und Versicherungen, die Gelder anlegen müssen, geben ihnen das nötige Geld. Der Versicherungskunde bezahlt also die Verschandelung seiner Heimat mit. Kaum ist dann so ein Palazzo fertig, ziehen Firmen aus anderen Gebäuden in die noch repräsentativeren Räume ein, die natürlich auch teurer sind, aber eben chic und eindrucksvoll. Den Preis zahlt, wie schon bei den Baustellen, die Allgemeinheit, denn die Mehrkosten werden über Produkte und Dienstleistungen an die Endverbraucher weiter gegeben.
Das Gleiche geschieht beim Wohnbau, wenn gewachsene Viertel und alte Mietshäuser für unrentabel, oder deren Renovierung als zu teuer bezeichnet werden. Da wird nicht bloß abgerissen, sondern da werden gewachsene Gemeinschaften zerstört und preisgünstiger Wohnraum vernichtet. Je ärmer das Quartier, desto billiger sein Kauf. Kann man einen teuren Neubau für gehobene Ansprüche darauf stellen, dann ist der Gewinn am höchsten und die Armen müssen eben sehen, wo sie bleiben. „Mit denen wollen wir sowieso nicht spielen!“
Feindliche Natur?
Ein ähnliches Bild in Gärten und Parks. Sie werden nur noch als Spielwiese wahr genommen, nicht mehr als Ort der Auseinandersetzung mit der Natur, als Ort der Muße, des Hegens und Pflegens, des Säens und Erntens, der jahreszeitlichen Stimmung. Wer könnte heute noch an Hand verschiedener Pflanzen sagen, in welcher Jahreszeit sie blühen oder fruchten? Gärten und Parks müssen heute pflegeleicht sein, denn den Gärtner im Gärtnerhaus gibt es schon lang nicht mehr. Statt dessen kommt einige Male im Jahr ein Mensch mit vielen Maschinen und bringt lautstark den Garten in irgend eine Form, die die Macht des Menschen über die Natur symbolisiert und für den Laien ordentlich aussehen muss. Dieser Mensch, der oft noch die Kehrwoche, die Reinigung des Hausflurs, das Schneeräumen und andere Dienste übernimmt, hat keine Ahnung welche Pflanzen er schneidet und ob das der richtige Zeitpunkt ist. Dass ein richtig gepflegter Zier- oder Nutzgarten eine höhere Vielfalt an Arten hat (Biodiversität), als gestutztes „Begleitgrün“ ist den Wenigsten bewusst.
Es gibt Leute in Mietshäusern, die sich davor fürchten, wenn der Gärtner kommt, weil er selbst das abschneidet und kappt, was sie mühsam heran gezogen haben. Diese Gärtner verhalten sich wieder, wie Kinder, die behaupten, sie hätten aufgeräumt, obwohl sie nur alles außer Sichtweite unter das Bett geschoben haben. (Das Schnittgut wird abgefahren, statt es im Garten zu kompostieren. Dafür kann man dann gekauften Kompost ausbringen und den Kunden berechnen.) Das gilt natürlich auch für die Eigentümer und Hausverwaltungen, die häufig ebenso wenig Ahnung haben, wie der so genannte „Gärtner“. Der Schein, nicht die Wirklichkeit zählt.
Neue Medien, alte Probleme
Deshalb berichten die Medien auch lieber über „die Schönen der Nacht“ aus den Clubs der Stadt, oder über so schwierige Themen, wie man mit einem offenen Hosenladen umzugehen habe, oder von Presseterminen, bei denen es was zu bestaunen gibt und eine Einladung zum Essen, oder Geschenke, statt über die Dinge, die wirklich wichtig wären, die die Menschen bedrücken (Angst vor Arbeitslosigkeit, vor Fremden, über Altersarmut, Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch). Zum Glück gibt es bei vielen Medien noch Journalisten, die ihre Arbeit ordentlich machen, aber sie werden immer schlechter bezahlt. Und der Nachwuchs kennt viele Regeln für seriösen Journalismus nicht mehr. Schon der Berufswunsch „irgendwas mit Medien“ lässt ahnen, dass es Vielen nicht mehr um den Dienst an den Mediennutzern geht, sondern um Selbstdarstellung und darum berühmte Leute zu treffen. Auch das ist wieder kindisch, denn wer wirklich etwas kann, der will auch für sein Können, seine Leistung Lob und Anerkennung erhalten, nicht wegen seiner schönen Haare.
Durch das Internet und sie so genanten „Sozialen Medien“ hat sich zwar der Wettbewerb um Werbegelder verschärft und verlagert, aber wirklich problematisch ist nicht, dass es neue Formen von Medien gibt, sondern dass in vielen dieser Medien überhaupt keine Prüfung auf Wahrheit und Qualität mehr stattfindet und damit Gerüchte großen Schaden anrichten können. Jeder meint, er wisse exklusiv und ganz allein als Einziger, wie es wirklich sei, denn schließlich habe er das ja von seinem „Freund“.  So tragen diese Medien zu viel mehr Streitereien bei, als zum tatsächlichen Verständnis von Zusammenhängen. Wieder benehmen sich viele dort wie kleine Kinder, indem sie sofort alles ausplappern, was ihnen in den Sinn kommt. Und das ausgerechnet in Medien, die sich ihre Dienste mit Daten über die Benutzer bezahlen lassen!
In den Online-Ausgaben vieler Medien steht zudem nicht mehr der Nutzer im Mittelpunkt, sondern dessen Nutzen für den Medienanbieter: Überschriften machen neugierig, statt zu informieren, ob das Thema einen interessiert, denn sie sollen Klicks erzeugen, für die die Werbung bezahlt. Es ist wie bei keinen Kindern: „Wenn du mir ein Bonbon gibst, verrat ich Dir auch...“ Statt den Mediennutzer so kurz und knapp, wie möglich umfassend zu informieren, wird in ihm ständig die Angst erzeugt, er könne etwas verpassen, wenn er nicht weiter klickt.
Ahnungslosigkeit macht Angst
Wie Kinder haben viele Leute nur noch sehr wenig Ahnung von Technik, von Haus und Garten und wie man Dinge selbst reparieren kann (Repair Cafés boomen). Auch über den Staat, seine Institutionen, über Zusammenhänge in Wirtschaft und Gesellschaft, herrscht oft beängstigendes Unwissen. Man hat in der Schule nicht aufgepasst, sondern nur dafür gesorgt, dass die Prüfungen irgendwie bestanden wurden. Inhalte interessierten nicht. Also fühlt man sich unsicher und ängstlich, wie ein Kind in unbekanntem Gelände. Wenn dann noch die sprachlichen Fähigkeiten (weil man nicht mehr längere Texte, gar Bücher liest) so wenig entwickelt sind, dass man nicht einmal eine Gebrauchsanweisung, einen Medikamenten-Beipackzettel, oder einen längeren Zeitungsartikel versteht, dann erscheint einem die ganze große Welt als feindlich und man sehnt sich nach Ordnung und Geborgenheit. Aber statt nun selbst besser Lesen zu lernen, sich Kenntnisse zu erarbeiten, oder praktische Fähigkeiten zu üben, lässt man sich von Medien berieseln und verdrängt das Problem erst einmal. Auch das wieder, wie ein Kind, das sich bei Angst die Augen zuhält, sich versteckt oder nach der Mama (wahlweise „Starker Mann“) ruft.
 
 
Carl-Josef Kutzbach
Freitag, 14. Juli 2017 vom 20.-28.8.2016