Das Leben aus der Hand geben,
oder in die Hand nehmen?
 
Die enorme Zunahme der Medien und ihrer Nutzung könnte Höhepunkt einer Entwicklung sein, bei der wir das Leben aus der Hand gegeben haben. Die Generation "Kopf runter", die ständig auf ihre Bildschirme starrt, erlebt die Welt vor allem in Bildern, Texten und Tönen, aber nicht mehr direkt, durch Anschauen, Anhören, Riechen, Berühren und Begreifen.
Die Entwicklung dahin dauert schon länger und die einzelnen Beispiele müssten jedes für sich bewertet werden, ob sie dem Einzelnen oder der Gesellschaft gut tun, oder nicht. Auch dürfte bei Werkzeugen der Übergang vom Gerät, das die Fähigkeiten unserer Hände erweitert, zur Maschine, die uns ganze Arbeitsgänge abnimmt, schwierig zu bestimmen sein. Aber darum geht es hier auch weniger. Die Kernfrage ist, ob uns Geräte hindern das Leben selbst spürbar in die Hand zu nehmen.
Kinder ritzten mit einem Stein andere Steine, oder malen Zeichen mit einem weicheren Stein, wie mit einer Kreide. In der Schule schrieb man früher mit dem Griffel auf eine Schiefertafel. Danach kamen der Bleistift und als Höhepunkt der Füllfederhalter. Die Feder, oder der Stichel kamen im Kunstunterricht hinzu. Kugelschreiber, Faserschreiber und Ähnliches kamen später hinzu. Heute weiß man, dass diese Art zu schreiben für die Entwicklung der Feinmotorik, aber auch des Gehirns bedeutsam ist, weil die Motorik (das Bewegen von Muskeln) entsprechende Vorgänge im Gehirn erfordert, also auch das Gehirn übt. (Ähnliches gilt für die Benutzung von Essbesteck oder Stäbchen.)
Zuhause erlebte ich die Schreibmaschinen von Vater und vor allem Mutter, die sehr schnell schreiben konnte. Wer das erlernen wollte, braucht einen Schreibmaschinenkurs, genau so, wie man Kurzschrift in einem Steno(grafier)-kurs lernen konnte. Fähigkeiten, die vor allem Schreibdamen, die Diktiertes abtippten, und Sekretärinnen brauchten.
Heute haut man selbst in die Tasten, oder auf die entsprechenden Felder des 'Touch-screens' (Berührungs-empfindlicher Bildschirm), wenn man nicht gleich dem Rechner diktiert, was der schreiben soll. Was das Tippen im Gehirn bewirkt, ist m.W. noch nicht gründlich untersucht.
Angefangen hat diese Entwicklung schon viel früher und es fällt schwer zu sagen wann. War es "Liebigs-Fleisch-Extrakt", der das Kochen einer Fleischbrühe vereinfachte? Liebigs Ziel war eigentlich auch Armen einfachen Zugang zur Fleischbrühe zu verschaffen. War es die Erfindung von elektrischem Licht, die das Anzünden zum Anschalten wandelte und den Umgang mit offenem Feuer verringerte? Oder war es noch viel früher das Nutzen von Tieren zum Reiten und zum Ziehen von Lasten? Schwer zu sagen, aber jedenfalls ist die Entwicklung schon längere Zeit im Gange.
Heute waschen immer weniger von Hand, sondern nutzen eine Waschmaschine. Auch Abspülen wurde durch die Spülmaschine ersetzt. Die Mikrowelle ersetzt teilweise den Ofen, der schon lange den Herd und die offene Feuerstelle verdrängte. Nähen, Stricken, Schneidern sind nur noch Freizeitbeschäftigungen, nicht mehr, wie einst Notwendigkeiten, wie das Spinnen oder Weben. Statt Speisen selbst zuzubereiten, kauft man Fertiggerichte (Konserven, Instantpulver, oder Convenience-Produkte), oder bestellt gleich beim Pizzaservice.
Selber einmachen, egal ob Marmelade, Gelee oder Kompott, oder das Auspressen von Obst zu Säften, das Vermosten oder Schnapsbrennen, sind in Haushalten selten geworden. Statt Kräutern aus dem Garten, nutzt man getrocknete Schnipsel.
Der Staubsauger - sogar in klein für den Tisch - verdrängte Besen, Handfeger und Müllschippe (Kehrwisch und Kehrblech). Die Kehrschaufel mit ihrem kurzen Griff wurde durch eine Konstruktion ersetzt, bei der man sich nicht mehr zu bücken braucht, weil sie einen langen Griff hat und auch der Besen wurde verlängert, so dass man den Dreck stehend aufnehmen kann. Der Abstand zu dem, was man tut , wird anscheinend immer größer.
Immer mehr Hausgemeinschaften machen nicht mehr selbst die Kehrwoche, sondern bestellen einen Putzdienst. Auch die Gärten werden immer öfter nicht mehr selbst gepflegt, sondern von Gärtnern, die nach Gutdünken schalten und walten, weil im Haus niemand mehr die Pflanzen und deren Bedürfnisse kennt. Man pflanzt Bäume, nur um sie später, wenn sie größer werden, entweder schrecklich zusammen zu stutzen, oder gleich zu fällen. Und wer noch mit den eigenen Händen jätet, sät, pflanzt, schneidet, kompostiert oder umgräbt, der benutzt in vielen Fällen Handschuhe, um ja nicht mit der dreckigen Erde in Berührung zu kommen. Schutzhandschuhe gegen Dornen und Spreissel sind hier nicht gemeint.
Auch Kleidung wird immer seltener im Laden erkundet, anprobiert, verglichen, der Stoff auf seine Qualität hin zwischen den Fingern geprüft, sondern man bestellt per Katalog, oder per Internet im Versandhandel und erzeugt so nebenbei unnötigen Verkehr und miserabel bezahlte Arbeitsplätze der Paketboten, da ein großer Teil der bestellten Waren wieder zurück gesandt wird, weil sie nicht passen, nicht gefallen, sich nicht gut anfühlen, oder sowieso nur zur Auswahl mit-bestellt wurden.
Ähnlich ist es im Bereich der Musik. Statt bei der Arbeit und in der Freizeit gemeinsam zu singen und zu musizieren, Instrumente zu erlernen und zu meistern (wiederum auch für das Gehirn und die Gefühle wichtig), werden Tonkonserven abgespielt, gar noch über Kopfhörer, so dass die übrigen Welt ausgeschlossen ist. Wer statt dessen in der Öffentlichkeit zu Singen anfängt, wird zumeist schräg angeschaut, oder gar aufgefordert das zu unterlassen (Singen sie  mal mit Genuss, gut gelaunt und voller Stimme in Bus oder Bahn!).
Auch bei der Arbeit gibt es den Wandel von der direkten Bearbeitung von Material mit Hammer, Säge, Zange, Beitel oder Bohrer hin zur indirekten Bearbeitung mit sogenannten "Werkzeug-Maschinen", die ganze Arbeitsgänge des Handwerkers übernehmen.
Schon bei der Einführung der industriellen Herstellung von Gütern in großen Stückzahlen, fragte sich ein lebenslustiger Genießer in London, ob das nicht zur Entfremdung der Menschen von ihrem Tun führen würde. Was hätte der wohl zu Telegraf, Telefon, Radio, Fernsehen, Internet, Satellitenkommunikation, Navigationssystemen usw. gesagt?
Es geht nicht darum Maschinenstürmerei zu betreiben, oder das "Zurück zur Natur" zu predigen, sondern, um die viel schwierigere Frage: Bei welchen Aufgaben und Gegenständen wäre es wünschenswert, sie selbst und mit den eigenen Händen zu machen, und bei welchen Aufgaben ist es besser sich durch Geräte und Maschinen helfen zu lassen und dafür die eine oder andere Erfahrung nicht zu machen?
Diese Frage ist auch deshalb so schwierig, weil:
  1. 1.wir an ganz viele Abläufe, Dinge und Geräte gewöhnt sind, gar nicht mehr vorstellen können, dass es auch anders ginge.
  2. 2.der vermeintliche Zeitdruck dem Einzelnen scheinbar gar nicht mehr die Zeit und Möglichkeit gibt anders zu handeln.
  3. 3.wir oft nicht mehr spüren, oder wahrnehmen, geschweige denn wissen, was für einen Unterschied es für uns und unser Gehirn macht, wenn wir etwas mit den eigenen Händen tun, oder es von anderen oder Maschinen tun lassen.
  4. 4.Wirtschaft und Werbung uns einreden, dass Bequemlichkeit ein Wert an sich sei. Dabei wird übersehen, dass nicht ausgeübte Fähigkeiten verloren gehen und verkümmern und ein Körper, der nicht gefordert wird, an Kraft und Gesundheit einbüßt. - Man muss sich nur mal den Bewegungsdrang von Kindern anschauen, um zu erkennen, dass körperliche Bewegung ein Vergnügen sein kann. (Leider wird manchen Kindern dieses Vergnügen schon früh ausgetrieben, indem man sie erst viel zu lange im Kinderwagen herumkutschiert und dann im Kindersitz im Auto, wo man sie ebenfalls, weil angegurtet, stets unter Kontrolle hat. Und im Kindergarten oder der Schule sollen sie dann oft auch brav stillsitzen, sonst bekommen sie die Diagnose "Zappelphilipp" (ADHS). Wobei Jungens, die anscheinend ein stärkeres Bewegungsbedürfnis haben, auch häufiger als Störende gebrandmarkt werden.)  
  5. 5.der Zusammenhang zwischen körperlicher Betätigung und Gehirnentwicklung nur wenigen klar ist, also auch nur ganz wenige (z.B. der Ulmer Hirnforscher Manfred Spitzer) sich Gedanken darüber machen, was wir uns eigentlich selbst antun, ohne dabei irgend eine böse Absicht zu haben.
  6. 6.diese Frage einen erheblichen Teil der Welt, so wie wir sie uns eingerichtet haben, in Frage stellt, was nicht nur bei denen die davon profitieren, sondern auch bei den meisten anderen Menschen Schrecken und eine eher blockierende Haltung auslöst. Es wäre auch völlig unsinnig nun von heute auf morgen alles umkrempeln zu wollen. Derartig scharfe Umbrüche scheitern meist, weil sie den einzelnen überfordern. Erfolgreicher wäre wohl die Richtung, in der sich die Gesellschaft und ihre Technik bewegt zu ändern. Nicht "Reichtum für wenige zu Lasten vieler" müsste das Ziel sein, sondern die bestmögliche Entfaltung jedes Menschen, damit er für die Gemeinschaft so nützlich, wie möglich sein könnte. Das setzt aber Strukturen voraus, in denen Teilhabe und Teilnahme viel wichtiger sind, als heute, wo viele nur als Kunden, Verbraucher, Beförderungsfälle, Nutzer gefragt sind, aber nicht als ganze Menschen mit einzigartiger Persönlichkeit und einer einzigartigen Mischung von Fähigkeiten und Genen.
Was jeder Einzelne tun könnte wäre darauf zu achten, welche Fähigkeiten man hat und diese zu pflegen. Dazu würde auch gehören sich dort, wo es einen hinzieht das Leben wieder in die Hand zu nehmen, oder den Weg unter die Füße, um so Körper und Geist anzuregen und weiter zu bilden. Wenn alle das in dem Maße machen, das ihnen gut zu tun scheint, dann dürfte sich daraus eine Vielzahl von veränderten Lebensweisen entwickeln, die allein schon die Gesellschaft bereichern, die aber im Laufe der Zeit auch erkennen lassen, was für die Gesellschaft als Ganzes  besonders wichtig wäre. Dann erst könnte man überlegen, ob sich das durch Organisationen, Strukturen oder Gesetze und Regeln fördern lässt.
Das Beispiel des Internet-Lexikons Wikipedia, das von Freiwilligen (ohne Nachweis der eigenen Kompetenz, aber mit dem Zwang zum Belegen der Fakten) geschrieben, eine erstaunliche Qualität erreicht, zeigt, dass viele Menschen gemeinsam zu großartigen Leistungen in der Lage sind, wenn man die entsprechenden Rahmenbedingungen schafft.
Dieses Beispiel weist auch darauf hin, dass eine Demokratie mit geeigneten Regeln für die Teilhabe und Teilnahme das Staatswesen wäre, das am Wirkungsvollsten die Menschenrechte und die Interessen jedes Einzelnen verwirklichen könnte. Man sollte sie in diese Richtung  weiter entwickeln, müsste aber auch Raum für die lassen, die nicht mitmachen wollen.
Fazit:
Wenn jeder Mensch die Chancen und Anregungen bekommt seine Fähigkeiten so gut wie möglich zu entwickeln und in das Gemeinwesen einzubringen, dann könnte das zur besten Staats- oder Regierungsform führen, zu der Menschen fähig sind.
 
Weit verbreitet ist es sich die Dinge - wie im Foto Laub und Staub - vom Leib zu halten, sie am Liebsten nicht mal mehr mit einem Werkzeug (Besen, Kehrichtschaufel) indirekt anzufassen.
 
 
Carl-Josef Kutzbach
Montag, 10. März 2014