Schon vor sieben Uhr dringt morgens von der ehemaligen Mercedes-Benz-Niederlassung in der Türlenstraße, reflektiert vom Milaneo, das Hämmern der Meisselbagger, die die Betonfundamente zerlegen über 300 m weit den Hang hinauf.
Ergänzt wird das Konzert durch das lautstarke Abschütteln der Erde von jenen riesigen Bohrern, die Löcher für die Baugrubensicherung bohren, die dann mit Stahlbeton gefüllt werden und als Säulen ein Abrutschen der Nachbarschaft ins Bauloch verhindern.
Schon beim Abriss des Stückgutbahnhofes drang der Lärm der Abrissbagger über 400 m weit den Hang hinauf.
Beim Abriss des Olgäle (Kinderkrankenhaus im Stuttgarter Westen. Siehe Foto oben.) sind die Erschütterungen durch die Meisselbagger noch in Häusern wahrnehmbar, die über 100 m weit entfernt liegen (z.B. Lindenspürstraße). Hier ist es nicht der Schall, der durch die Luft transportiert wird, sondern die über den Boden übertragene Erschütterung, die im Haus wie ein ständiges Klopfen klingt.
Man kann also davon ausgehen, dass sich in dicht besiedeltem Gebiet die Erschütterungen und der Lärm eines Meisselbaggers zwischen 100 und 250 m weit im Umkreis ausbreiten. Dabei entsteht um so mehr Lärm, je mehr Beton verbaut wurde und damit abgerissen werden muss. Bei einem Backsteingebäude, oder den alten Häusern des Westens hinter deren Steinfassaden sich meist Holzkonstruktionen verbergen, braucht man keine gewaltigen Bagger mit Meisseln, da genügt in der Regel ein Abrissbagger mit Schaufel oder Zange.
Schaut man sich einmal an, was in den letzten Jahren in Stuttgart abgerissen wurde, dann wundert es kaum, dass der Lärm sich immer mehr ausbreitet und immer größer wurde:
  1. Die Messe auf dem Killesberg (heute Privatgelände).
  2. Die Trafo-Union in Bad Cannstatt (heute Konsumtempel).
  3. Die Bankgebäude zwischen Kronprinzen-Straße und Theodor-Heuss-Straße neben dem kleinen Schlossplatz.
  4. Der Umbau des Schwanenplatzes rund ums Mineralbad Leuze, das darunter leidet.
  5. Die WGV-Versicherung bei der Paulinenbrücke und Marienkirche.
  6. Daneben das ganze Viertel, auf dem heute ein Konsumtempel steht, der mit seinem Namen an die geruchsintensiven Gerber erinnern möchte.
  7. Die zum großen Teil denkmalgeschützte Häuserzeile zwischen Staatsgalerie und Neckartor, die dem Innenministerium weichen musste.
  8. Das Viertel zwischen Holzstraße und Markthalle samt ehemaligem Innenministerium.
  9. Das Hochhaus am Bahnhof, das einst Eisen-Blume baute.
  10. Das Gelände der ehemaligen AOK bei der Liederhalle an der Breitscheidstraße.
  11. Große Teile der ehemaligen Bahndirektion beim Hauptbahnhof.
  12. Die ehemalige Landesgirokasse an der Königstraße.
  13. Die Rathausgarage.
  14. Die Garage der Landesbibliothek.
  15. Hospitalhof
  16. Institute in der Seestraße (Villengärten).
  17. Abriss alter Straßenbahntunnel wegen Umbauten für S21.
  18. Abriss des Straßenbahndepots am Vogelsang.
  19. Teile des Katharinenhospitals, das – den Kranken zum Trotz – eine Dauerbaustelle ist.
  20. Schwesternwohnheime, z.B. am Victor-Köchel-Weg (heute Stadtvillen), in der Sattlerstraße (heute Krankenhausverwaltung).
  21. Das Viertel beim Bahnhof Feuerbach, das neu bebaut werden soll.
  22. Abriss der Omnibusfirma Neoplan in Vaihingen.
  23. Hinzu kommen die Baustellen für Stuttgart 21 (die kostspielige Verlegung des verkleinerten Bahnhofes unter die Erde) um teures Innenstadtgelände vermarkten zu können, sowie dafür nötige 60 km Tunnels im Neckartal, aber auch auf die Filderebene hinauf, so dass viele Stadtteile von Bohren, Meisseln, oder Sprengungen betroffen sind.
Diese Liste ist unvollständig. Weitere Großprojekte in den Stadtteilen kommen hinzu. Und es wird in absehbarer Zeit nicht ruhiger. Geplant oder in Vorbereitung sind z.B.:
  1. Teilabriss von Bürgerhospital und dessen Wohnturm der Mitarbeiter.
  2. Wohngebiet auf dem Gelände der Abfallwirtschaft bei der Mönchhalde.
  3. Was wird aus den Bauten der Allianz am Hasenberg und im Gerichtsviertel, die sie einst gegen Widerstände und mit Abriss von Altbauten durchsetzte, wenn sie nun 35-45 Jahre später nach Stuttgart Vaihingen umziehen will?
  4. Ehemaliges Schwesternwohnheim in der Lenzhalde.
  5. Was geschieht mit den Bauten der Württembergischen im Westen beim Feuersee, wenn sie einen Teil der Arbeitsplätze verlegt?
  6. Umbau der Nikolauspflege am Kräherwald.
Nicht überall kommen Meisselbagger zum Einsatz, weil sich Gebäude aus Holz und Ziegeln, aber auch anderen Steinen relativ einfach abreißen lassen. Die lauten Meissel sind vor allem dort nötig, wo Stahlbeton zerlegt werden muss, also bei jüngeren Bauten, Tiefgaragen und Fundamenten. Das ginge theoretisch auch mit Hilfe einer Sauerstofflanze und erschütterungsfrei, wie die Helfer vom Technischen Hilfswerk immer mal wieder demonstrieren. Aber das dauert natürlich länger und ist teurer.
Da ist es denn Bauherren doch viel lieber die ganze Stadt erfährt durch ständiges Gehämmer, dass die Vergangenheit und damit auch das Vertraute beseitigt wird, um für Neues - meist qualitativ Fragwürdiges - Platz zu machen.
Was es für die Gesundheit und Arbeitskraft der Bürger bedeutet in einer „behämmerten Stadt” zu wohnen und zu arbeiten, das interessiert weder den Gemeinderat, noch die Raffkes unter den Investoren.
 
Das Bild oben zeigt gleich drei Meisselbagger, die auf dem Gelände des ehemaligen Kinderkrankenhauses die Betonfundamente zerlegen und damit in einem Umkreis von mindestens 100 m in den Häusern als ständiges Klopfen wahrnehmbar sind.
 
Links:
Auf http://www.openstreetmap.org kann man sehr viele Flächen finden an denen in großem Stil Neubauten entstehen sollen. Neben schon erwähnten etwa in Vaihingen an der Industriestraße.
Ein Fachmann zeigt auf seiner Seite, wie sich Stuttgart abreißt und trug zur Ausstellung „Stuttgart reißt sich ab“ ganz wesentlich bei.
 
 
 
 
Behämmerte Stadt
Carl-Josef Kutzbach
Freitag, 16. September 2016