Authentizität, Glück und Gesellschaft
 
Viele Menschen scheinen die meiste Zeit unsicher zu sein, wie sie sich verhalten sollen. Deshalb tun sie so, wie sie meinen tun zu sollen, aber nicht, wie es ihnen oder ihren eigenen Bedürfnissen entspricht. Folglich erkennt man sie selbst nicht und achtet sie nicht als der, der sie sind, sondern bestenfalls als jene, die sie darzustellen versuchen. Unglück und Unzufriedenheit lauern dann, weil eigentlich jeder als er selbst wahrgenommenen und geschätzt werden möchte.
Nun freut sich ein Schauspieler auch über den Applaus, den er für seine Darstellung bekommt, aber, das ist Lob für sein Können und seine Arbeit, nicht aber eine Würdigung seiner privaten Persönlichkeit.
In ähnlicher Weise kann die persönliche Unsicherheit dazu führen, dass alle ständig Rollen spielen und die ganze Gesellschaft meint, dass der Schein wichtiger wäre, als das Sein. Die ganze Gesellschaft folgt dann diesen Vorstellungen, statt ihren tatsächlichen Wünschen und Bedürfnissen nach Anerkennung, nach persönlicher Begegnung und Wertschätzung.
Werte und Ziele der Gesellschaft werden dem vermeintlichen Bedürfnis nach Schauspiel untergeordnet und führen zwangsläufig zu weiteren, unter Umständen falschen Entscheidungen, die in vielen Fällen dem Erreichen des Glücks nicht nützen. Also wird viel über Glück geredet und es ständig als erstrebenswertes Ziel und als anzustrebender Dauerzustand gepredigt. Das ist jedoch ein ziemlich sicheres Anzeichen dafür, dass viele Menschen nicht glücklich sind, ja nicht einmal wissen, was Glück für sie bedeuten würde. Die vielen Bücher und Beiträge zum Thema Glück, verraten, dass diese Gesellschaft unglücklich ist. Das ist auch kein Wunder, denn es kommt nicht zur echten Begegnung von Mensch zu Mensch, sondern nur zum Vorführen von Rollen, die man meinte lernen zu müssen.
Obendrein kostet es ziemlich viel Kraft die Rolle, die man meint spielen zu müssen, oder die Fassade, die man meint wahren zu müssen, auszufüllen und durchzuhalten. Das Ganze ist also eine Belastung und anstrengend.  Dass dieser Aufwand trotzdem betrieben wird, dürfte daran liegen, dass eine Rolle, oder eine klare Arbeitsplatzbeschreibung auch Sicherheit gibt.
Wie soll eine Gesellschaft glücklich werden, wenn sie sich ständig verstellt, stets meint die Rollenerwartung Anderer erfüllen zu müssen, sich ständig hinter Fassaden, Masken und Rollen versteckt und der Einzelne sich deshalb oft im Grunde ganz elend vor Einsamkeit fühlt? Kein Wunder, wenn Partnerschafts-Vermittlungen blühen und dennoch weniger Erfolge haben, als eigentlich zu erwarten wäre.
Wie schwer es ist man selbst zu sein, etwas von sich preiszugeben, verletzbar zu sein, kann man erleben, wenn man aufzutreten, etwas improvisieren soll (z. B. Theatersport), sich zum Narren, oder lächerlich macht (was für die Mitmenschen doch durchaus nett und lustig sein kann). Da treten viele gar nicht erst an, lehnen das als Spielerei, als Blödsinn ab, geben sich ernst, allwissend, felsenfest überzeugt und scheinbar stets Herr der Lage. Dann wird im Brust-ton der Überzeugung behauptet, so (und nur so) sei die Welt. Und sie hätten das schon immer gewusst und gesagt. Zweifel kennen sie scheinbar nicht. Widerspruch prallt an ihnen ab, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Vor allem wenn jemand erfolgreich ist, lässt er seine Sicht der Welt – verständlicherweise – kaum infrage stellen, selbst dann nicht, wenn schädliche Auswirkungen seines Tuns (z. B. für Umwelt, Wirtschaft, Gesellschaft, Gesundheit, oder Politik) schon recht deutlich spürbar sind.
Je mehr eine Gesellschaft falschen Ideen und Idealen folgt, umso schlimmer, da so die damit verbundenen Fehlentwicklungen verstärkt werden. Dabei werden Zweifel zuweilen auch dadurch zum Verstummen gebracht, dass man sich zu immer größeren Organisationen,  Strukturen, Konzernen, Verbänden oder Städten zusammenschließt, also Macht sammelt, und andere Meinungen auf verschiedene Weise zu verhindern versucht:
  1. 1.„Mehrheit hat Recht!“
  2. 2.Werbemaßnahmen, die die eigene Position stärken, jedoch Gemeinnützigkeit vorgaukeln (Initiative Neue Marktwirtschaft).
  3. 3.Ausnutzen der Marktmacht, indem über Preise und Lieferbedingungen andere Anbieter verdrängt oder kaputt gemacht werden.
  4. 4.Behinderung von Recherchen der Medien durch Privatisierung (DB, Post, Telekom), da Privatunternehmen im Gegensatz zu Unternehmen der öffentlichen Hand nicht mehr gegenüber den Medien auskunftspflichtig sind.
  5. 5.Meinungsführerschaft mit Hilfe von Kongressen und Studien von Forschern, die ähnlich denken, oder ähnliche Interessen verfolgen.
  6. 6.Drohung mit Schadensersatzforderungen.
  7. 7.Drohung mit Prozesskosten gegenüber Journalisten (es ist für große Konzerne ein Leichtes den Streitwert in die Höhe zu treiben und damit auch die Gerichtskosten, so dass ein Journalist selbst im Falle, dass er recht behält, durch die Prozess- und Anwalts-Kosten ruiniert wäre.)
Das Streben nach Macht durch Größte verrät eine erhebliche Unsicherheit und wenig Vertrauen in das eigene Können, die eigenen Ideen, Vorstellungen, oder Produkte. Dass der Trend zu großen Einheiten das Gesamtsystem immer anfälliger macht, wird nicht bedacht. Die Anpassungsfähigkeit großer Einheiten ist häufig weniger gut. Die Folge sind viel zu oft Massenentlassungen und Arbeitslosigkeit.
Die eigentliche nötige Prüfung, welche Größe für welche Aufgabe angemessen wäre, wird nicht durchgeführt. So kann sich Macht bei Einigen ansammeln, die in der Lage sind der Politik, ja sogar ganzen Staaten, Bedingungen zu stellen, statt dass die Politik den Rahmen setzt, in dem sich die Wirtschaft abspielt, abspielen muss, wenn sie der Gesellschaft keinen Schaden zufügen soll. Zum Beispiel indem Firmen ihre Ansiedlung davon abhängig machen, dass die Gemeinde ihnen Zugeständnisse macht. Geht dann die Firma pleite, oder der ortsansässige Konkurrent, oder die Firma beschließt das Ende (Nokia in Bochum), oder hinterlassen Firmen Gebäude (Eiermanns Gebäude, die früher in Stuttgart-Vaihingen von IBM benutzt wurden), dann bleibt meist das Problem an der jeweiligen Gemeinde hängen. (Weitere Kandidaten für solche geplanten oder fahrlässig herbeigeführten Pleiten wären in Stuttgart zum Beispiel die Killesberghöhe, die Königsbaupassagen, dass Milaneo, dass Gerber und vielleicht auch Breuninger.) Funktionieren Einkaufszentren oder Firmensitze nicht mehr, dann haben Investoren und Geschäftemacher längst ihren Gewinn gemacht. Bürger und Gemeinde müssen aber mit den nicht funktionierenden Bauten leben, bis sie entweder abgerissen werden, oder eine neue Nutzung gefunden wird, für die sie unter Umständen gar nicht geeignet sind. Den Schaden trägt also die Allgemeinheit.
Und warum gehen solche Konzepte häufig nicht auf? Weil alle, auch gute Planer, in vielen Fällen von falschen Voraussetzungen ausgehen, von Scheinbedürfnissen und Ersatzbefriedigung, die man unter Umständen aber rasch aufgibt, wenn man merkt, dass diese Scheinlösungen nicht wirklich glücklich machen.
Kurzum: Weil wir oft nicht wagen unserer wirklichen Bedürfnisse zu zeigen und deren Befriedigung anzustreben, sondern so tun, als ob ganz Anderes wichtig wäre, kommt alles durcheinander und die Chancen glücklich zu werden sinken.
Dabei kann es nicht darum gehen jederzeit und überall auf sofortiger Befriedigung zu bestehen oder diese zu erwarten. Viele Gesellschaften haben jedoch Zeichen entwickelt, die helfen, dass sich diejenigen mit gleichen Interessen finden können, ohne die Übrigen damit zu belästigen. Gegenseitige Achtung und Rücksicht gebieten, dass man auch andere, als die eigenen Interessen gelten lässt. Man muss zum Beispiel die eigene Sehnsucht nach Sex (oft steckt dahinter eigentlich die Sehnsucht nach Nähe, Begegnung und Geborgenheit) nicht denen „aufs Auge drücken“ (z.B. durch Kleidung, die mehr zeigt, als verbirgt), die aufgrund ihres Alters daran weniger interessiert sind (Kinder und Alte).
Das ist nicht einfach, aber deshalb haben viele Gesellschaften „Sitten und Bräuche“ (Spielregeln), die dabei helfen die eigenen Bedürfnisse zu verfolgen, ohne Andere vor den Kopf zu stoßen. Auch Religionen dämpfen manchmal die Begierden der Menschen. Aber der Wegfall von Religionen, Sitten und Gebräuchen, die heute manchmal einem erheblichen Teil der Gesellschaft fremd sind, sei es weil sie Fremde sind, oder sie diese als Einheimische niemals kennen lernten, dieser Mangel an bekannten Regeln erschwert das gegenseitige Verständnis.
Daraus nun eine Begrenzung der Zugezogenen auf irgend eine Zahl zu fordern, geht an der Sache vorbei. Denn es hängt nicht allein von der Zahl der Zugezogenen ab, ob es zu Problemen kommt sondern auch von den Rahmenbedingungen. Zum Beispiel hat das wohlhabende Stuttgart einen recht hohen Anteil von Menschen, deren Eltern und Großeltern woanders lebten, aber die Angst vor den Fremden, oder der Neid auf sie, ist ziemlich gering. Anderswo ist das viel schlimmer, weil dort zwar vielleicht weniger Fremde zugezogen sind, aber die Gegend schon vorher sehr arm war und schwer zu kämpfen hat.
Umgekehrt wäre es falsch zu leugnen, dass die Begegnung mit anderen Kulturen und fremden Menschen die Unsicherheit des Einzelnen verstärken kann. Das war in Deutschland deutlich zu beobachten, als der Eiserne Vorhang fiel. Bis dahin kamen Fremde vor allem aus West-, Süd- und Nordeuropa und deren Sprachen kannte man, ja verstand sie vielleicht sogar. Nun kamen sie auch aus Osten. Und über diese Länder und ihrer Menschen hatte man bisher fast nur Propaganda gehört, also Verleumdungen eines Gegners, statt redlicher Beschreibungen die Ähnlichkeiten aufzeigen und Fremdartiges benennen, aber auch erklären. Kein Wunder, wenn Vorurteile sprießen. Wenn dann noch die Politik Fehler macht (sie ist ja auch nicht unfehlbar), oder Demagogen und Dummköpfe versuchen Fremde für ihre Zwecke zu benutzen, dann wird die echte Begegnung, und damit ein sich Kennen- und Verstehen-lernen, erschwert und die Unsicherheit wächst.
Dabei sehnen sich wohl alle Menschen nach Sicherheit (Frieden, Arbeit, stabile Verhältnisse), weil sie ihnen die besten Chancen bietet, zur Gründung einer Familie, für Freundschaften und für gelegentliches Glück.
Glück ist – schon allein, weil unser Gehirn so konstruiert ist –  etwas, das man nur ab und zu und immer wieder mal erlebt. Zum Beispiel, wenn man etwas begreift (Heureka), wenn man einen geliebten Menschen trifft, wenn man lacht, vielleicht auch beim Sex, oder der Brutpflege, bei tiefen Verständnis, oder Zärtlichkeiten. Glück ist also nie ein Dauerzustand sondern ein besonders schöner Moment im Leben, den man gerne wieder erleben möchte. Deshalb strengen wir uns dafür an. Das bedeutet aber auch, dass es immer Zeiten gibt, in denen man nicht glücklich, sondern voll Sehnsucht nach Glück ist. Natürlich gibt es auch Katastrophen im Leben, sozusagen das Gegenteil von Glück. Aber ohne sie wäre Glück wohl weniger verlockend und damit weniger motivierend und weniger schön.
Der Weg zum gelegentlichen Glück und zur Verbesserung der Gesellschaft (und damit der Chance öfter glücklich zu werden) führt dahin, dass man versucht sich selbst und die eigenen Bedürfnisse besser zu erkennen und sich um deren Erfüllung zu bemühen, statt irgend welchen Illusionen oder von anderen bestimmten Rollen nachzueifern. Das wird man nie vollkommen meistern. Aber allein das Bemühen in diese Richtung weiter zu kommen, hilft der Gesellschaft und dem einzelnen Menschen glücklicher zu werden. Selbst wenn man das nur in bescheidenem Rahmen verwirklichen kann, hätte man doch das Gefühl, das Richtige (für einen selbst und für die Gesellschaft) anzustreben und seinen Beitrag zu leisten.
 
Das Bild oben zeigt eine mit LEDs von Innen beleuchtete Papierfigur, die zur Einweihung des Stuttgarter Stadtmuseums vor dem Wilhelmspalais stand.
Carl-Josef Kutzbach
Freitag, 18. Mai 2018 vom 18.5.2014