Immer mehr Ärger
Belastung durch Dichte und Regellosigkeit
Carl-Josef Kutzbach
Dienstag, 13. Juli 2021
 
Die Süddeutsche titelt in der Rubrik „Psychologie” Das erschöpfte Ego. Und schreibt im Anreißer: „Die Menschheit war noch nie so gesund wie heute. Und noch nie so überfordert.” (1) Dem würden sicher Viele zustimmen, die sich schon mit ihrem Alltag schwer tun. Überall prasseln Aufforderungen einen ein: „Halt Abstand! Trag eine Maske! Tu dies! Lass jenes! Schone die Umwelt, das Klima! Kaufe nur Bio! Flieg nicht! Fahr Rad, statt Auto!” Es wimmelt geradezu von Aufforderungen und Befehlen. Auch in den Medien heißt es immer öfter „muss” ( „was sie jetzt wissen müssen” ) statt den Nutzer entscheiden zu lassen, ob er etwas für wichtig hält. Von der Werbung ganz zu schweigen, die sich immer öfter in den redaktionellen Teil einschleicht ( bei der Stuttgarter Zeitung steht sogar schon über den Schlagzeilen das Wort „Anzeige”, weil sich auch hinter scheinbar redaktionellen Schlagzeilen Werbung verbirgt. )
Dass sich Menschen gegen die Zumutungen, die die Pandemie mit sich bringt, wehren wollen, ist menschlich verständlich, weil es um erhebliche Einschränkungen geht. Aber wie sonst sollte man mit den Gefahren einer Pandemie umgehen? Dazu gehört nun mal der Versuch dem Krankheitserreger das Leben schwer zu machen, indem man Kontakte vermeidet, Masken trägt, auf Hygiene achtet und für frische Luft sorgt, um die Verbreitung zu bremsen. Das war schon bei der Spanischen Grippe im ersten Weltkrieg so. Auch die Grippe verschwindet im Sommer und kommt im Winter wieder; das dürfte bei Covid 19 ähnlich sein.
Könnte es sein, dass das Wehren gegen Maßnahmen, die dem eigenen und dem Schutz der Mitmenschen dienen, sich eigentlich gegen die Vielzahl der Aufforderungen und Befehle richtet, weil man hier einen ganz konkreten Verursacher zu kennen meint, während man sonst schwer zuordnen kann, wer hinter all den Aufforderungen steckt? Dann wäre die Pandemie und die Demonstrationen gegen Schutzmaßnahmen eigentlich ein Aufbegehren gegen die tägliche Flut der Befehle und Aufforderungen.
Woher kommt die eigentlich? Es gibt ein paar Gründe, die alle nicht besonders angenehm sind. Jeder kennt vom Gartenschlauch, oder dem der Feuerwehr: Je höher der Druck, desto weiter reicht der Strahl aus der Düse. Nimmt man den Druck zurück, tröpfelt es irgend wann nur noch aus der Düse. Das ist Physik und beschreibt, dass viele Tropfen nur dann rasch durch eine Engstelle hindurch kommen, wenn sie sich zu einem Strahl vereinigen, der mit hoher Geschwindigkeit durch die Düse austritt. Dass das nicht mit allen Gegenständen funktioniert sieht man beim Verkehr. Sind zu viele Autos unterwegs, kommt es zum Stau. Zwar könnten die rascher an Engstellen vorbei, aber weil mit steigender Geschwindigkeit der Sicherheitsabstand immer größer wird, werden muss, können sie sich nicht, wie die Wassertropfen, zu einem Strahl vereinigen. 
Das Beispiel zeigt, dass um so mehr Ordnung notwendig ist, je mehr Einzelne zusammen kommen. Aus Tropfen, wird ein geordneter Wasserstrahl, wenn der Druck groß genug wird.    
1950 gab es 2,53 Milliarden Menschen mit einem Durchschnittsalter von 23,5 Jahren. - 2010 gab es 6,92 Milliarden Menschen mit einem Durchschnittsalter von 31 Jahren. Die Menschheit hat sich in 60 Jahren mehr als verdoppelt, ja fast verdreifacht! Also wächst der Druck. Man merkt das bei der Ausbeutung der Natur und beim Wachstum der Städte, oft um ein Mehrfaches, beim Verkehr, aber auch an der Sehnsucht nach Ruhe und Orten, an denen die Welt noch in Ordnung zu sein scheint.
Tokio wuchs von 1955 bis 2014 von 13,7 auf 37,8 Millionen Einwohner. Bei einer derartigen Dichte ist die japanische Disziplin kein Wunder, sondern sehr wahrscheinlich eine logische Folge des Druckes, der durch die Menge der Menschen auf engem Raum entsteht. Sie versuchen sich, wie die Wassertropfen zu verhalten und geben individuelle Freiheiten auf, um – sozusagen als Strahl – durch den beschränkten Raum hindurch zu kommen. Aber wo ist die Grenze, ab der eine immer stärkere Anpassung an Regeln und Vorschriften den Menschen unglücklich macht? Tokyo hat jetzt schon das Zuschauen bei der Olympiade verboten, um die Ausbreitung des Virus zu vermeiden. Aber was sind Olympische Spiele ohne Zuschauer? 
Als während der Pandemie nur Ausflüge möglich waren, stöhnten die Naherholungsgebiete unter dem Ansturm, da der Druck so groß war ( weil man nicht das Ventil der Fernreisen hatte ). Im Stuttgarter Wald wurden sogar Plakate aufgehängt, die zur Rücksichtnahme auffordern.

Wer an einem Wochenende zu Fuß auf den ehemaligen Treidelpfaden längs der Flüsse spazieren möchte, wird ständig von Radlern überholt, oder angeklingelt, weil auch diese die ebenen, meist asphaltierten Wege – ohne Autoverkehr – schätzen. Für Beide, Fußgänger und Radler ist das meist kein reines Vergnügen mehr, vor allem, da sie sich in verschiedenen Geschwindigkeiten bewegen. (2)
Ähnlich ist es im Wald, wo eine kleine, aber rücksichtslose Gruppe derer, die meinen mit dem Kauf eines Mountainbikes auch das Recht erworben zu haben, damit überall zu fahren, sich nicht an die Regeln hält. Die Werbung der Fahrradfirmen, auch in der StZ unterstützt das auch oft. Daher werden entsprechende Strecken angelegt, um die Konflikte mit den Fußgängern zu entschärfen. Doch dadurch wird Fußgängern das „Betretungsrecht der freien Landschaft” eingeschränkt. Diese Radlerstrecken sollen Fußgänger nicht betreten. Viele Radler halten sich nicht an die Baden-Württembergische Regel, dass sie nur auf Wegen, die breiter als 2,50 m sind, fahren dürfen. Die sollte eigentlich ein gedeihliches Miteinander fördern. Aber wehe man weist Radler darauf hin, dass sie auf den schmalen Wegen nichts zu suchen haben! Erst recht, wenn es Leute sind, die jetzt, dank Hilfsmotor, Strecken befahren, die sie ohne gar nicht schaffen würden.
Hinter all dem steckt eine ( zu? ) hohe Dichte, die Stress erzeugt, der Menschen weniger hilfsbereit und aggressiver macht. Entsprechend unerfreulich laufen die Begegnungen ab. Der Gesetzgeber versucht durch Regeln und Plakate (s.o.) ein rücksichtsvolles Miteinander zu fördern, aber wenn die Regelungsdichte sowieso schon so hoch ist, dass viele davon genervt und überfordert sind ( Autofahrer sehen etwa alle 35 m ein Schild ), führen weitere Regeln kaum zu einer Verbesserung, sondern bestätigt nur, dass die Dichte ein Problem geworden ist.
Die physikalisch logische Lösung wäre, wenn sich alle mehr an Regeln halten würden, um das Zusammenleben angenehmer zu gestalten. Doch genau das Gegenteil geschieht. Viele meinen sie bräuchten sich nicht an Regeln halten. Radler, Elektroroller, ja Motorroller (4) fahren auf dem Gehweg, wobei die Zusteller von Post und Anderen ein schlechtes Beispiel geben.
Das gilt auch für andere Bereiche und führt dazu, dass immer mehr Leute verärgert sind.
Verstärkt wird diese Entwicklung dadurch, dass immer mehr Tätigkeiten motorisiert wurden. Der Straßenkehrer ersetzt den Besen durch Gebläse oder Staubsauger, der Gärtner schneidet nicht mehr mit der Schere, Sense, Sichel oder dem Spindelmäher, sondern mit Motorrasenmäher, Motorsense, Freischneider, motorisierter Heckenschere und recht oder kehrt den Laubschnitt nicht mehr zusammen, sondern benutzt dafür ein motorisiertes Gebläse. Ähnlich ist es bei den Handwerkern, die den Schraubendreher durch einen Akkuschrauber ersetzten, die Brustwinde durch eine Bohrmaschine und so weiter. Überall laufen Motoren und erzeugen Lärm. Und das obwohl über 80 % der Bevölkerung unter Lärm leiden. 
Man hat den Eindruck, dass einerseits die Arbeit durch Hilfsmotoren beschleunigt werden soll, dass aber andererseits das Aufheulen der Motoren auch allen im Umkreis von einigen hundert Metern mitteilen soll, dass hier ein Mensch arbeitet. Der schützt sich durch Kopfhörer, Visier und Schutzkleidung. Nur die drum herum sind dem Lärm schutzlos ausgesetzt. Auch das weckt Aggressionen und senkt die Hilfsbereitschaft, was seit über 40 Jahren bekannt ist.
Allein diese zwei Beispiele aus dem Bereich des Verkehrs und der Arbeit zeigen, dass es ganz viele Einflüsse sind, die zum Ärger und zur Gereiztheit beitragen. Das entlädt sich zum Teil in den so genannten „Sozialen Medien“ als Hass, aber auch in Form von Vandalismus, oder Randale, und Gesetzes-Missachtung, wie in vielen Städten. Das Frankfurter Bahnhofsviertel wird dermaßen von Prostitution, Kriminalität und Gewalt geprägt, dass Firmen ihren Mitarbeitern verbieten die dortigen Hotels zu buchen, weil sie sie ihre Mitarbeiter nicht in Gefahr bringen wollen. Wenn aber die Mitarbeiter Hotels weit draußen benutzen müssen, lohnt es sich mit dem Auto zu fahren, weil der lange Weg vom Bahnhof zum Hotel die viel schnellere und die Umwelt schonende Bahnfahrt wertlos macht.
Noch ein paar Quellen von Ärger, die die Meisten kennen: Im Internet Cookies, sowie die AGBS, Kleingedrucktes, das fast niemand liest, weil allein das Lesen ( ohne es zu verstehen! ) würde jeden ein Dreiviertel Jahr beschäftigen. Es bleibt das Gefühl, das man ausspioniert wird und gegen die Geschäftemacher keine Chance hat. Das ist psychologisch eine persönliche Kränkung! Wer einem Menschen das Gefühl gibt, er sei unfähig sein Leben selbst zu gestalten, schadet ihm und macht ihn krank. Die gesamte Digitalisierung führt dazu, dass man immer abhängiger von Geräten wurde, die oft kurz nach dem Ende der Garantiezeit den Geist aufgeben, oder aber ständig verändert werden, so dass der Benutzer nie ganz sicher ist, ob er sich auskennt und weiß, was er tut. Der Bändel mit dem man das Smart-Phone umhängen kann, symbolisiert zugleich die Abhängigkeit des Benutzers vom Gerät: Er oder Sie kann ohne es nicht sein!
Die Verlagerung von vielen Tätigkeiten ins Internet hat neue Abhängigkeiten geschaffen. Wer bestimmte Dienste nicht benutzt, bekommt keine Aufträge mehr. Wer sich gegen die Diktate der Anbieter zu wehren versucht, landet im Abseits. Man wird immer öfter gedrängt bestimmte Dienste zu benutzen, seien das Kreditkarten zum Einkauf über das Internet, seien es Bezahldienste, seien es Speicher ( Cloud genannt, obwohl eine Wolke doch etwas höchst Flüchtiges ist ). Überall wird einem vorgeschrieben, was man zu tun hat, wie man sich verhalten soll, um irgend eine Dienstleistung in Anspruch nehmen zu „dürfen“. Ohne Kreditkarte kann man manche Verkehrsmittel nicht mehr im Internet buchen.
Das Paradoxe daran ist, dass einerseits die zunehmende Zahl der Menschen tatsächlich dazu drängt, dass man sich mehr nach Regeln (5) richtet, dass aber andererseits diese Regeln für Einige nicht zu gelten scheinen, so dass immer mehr Menschen meinen, sich ebenfalls nicht an Regeln halten zu müssen. Damit fördern sie selbst zugleich die Verwirrung, unter der sie leiden.
Wir haben also den bedenklichen Zustand, dass wir uns immer öfter ärgern, aber uns selbst auch so verhalten, dass wir für Andere zum Anlass von Ärger werden, etwa, weil wir uns nicht mehr an Regeln halten, obwohl die hilfreich wären. Aber Vorbild sein und voran gehen, das klingt für Viele nach Strebertum und Spießbürgerlichkeit. Freiheit, wird als Freiheit von Regeln verstanden, dabei sind es die Regeln, die überhaupt ein Zusammenleben und eine Entfaltung ermöglichen.

Die Bilder stammen aus dem Wald bei den Bärenseen in Stuttgart. Ob es sinnvoll ist auch noch im Wald weitere Gebote aufzuhängen?

Quellen und Anmerkungen:
(1)    https://www.sueddeutsche.de/leben/stress-pausen-alltag-1.5339421
(kostenpflichtig)
(2) Die Verkehrswege sind voll  
http://notizbloecke.cajo-kutzbach.de/Notizblock-4/4/73F37664-17A6-429E-A90C-D845D8309A21.html
(3) Gewinne auf Kosten der Schwächsten
http://notizbloecke.cajo-kutzbach.de/Notizblock-4/4/E07D0EC1-48E0-4009-A76F-9728B38260F1.html
(4) NZZ: Im Frankfurter Bahnhofsviertel verzweifeln Gewerbetreibende an Drogenhandel, Prostitution und Gewalt https://www.nzz.ch/international/im-frankfurter-bahnhofsviertel-verzweifeln-gewerbetreibende-an-drogenhandel-prostitution-und-gewalt-ld.1630733?rflmnt=adnz%3B%3B%3Bbc
(Ähnliches wird aus München gemeldet.)
(5) Regeln? Gelten nur für Andere 
http://www.cajo-kutzbach.info/Regeln%20-%20gelten%20nur%20für%20Andere.pdf
Regeln und Ängste
http://www.cajo-kutzbach.info/Regeln%20und%20Aengste.pdf
https://www.sueddeutsche.de/leben/stress-pausen-alltag-1.5339421http://notizbloecke.cajo-kutzbach.de/Notizblock-4/4/73F37664-17A6-429E-A90C-D845D8309A21.htmlhttp://notizbloecke.cajo-kutzbach.de/Notizblock-4/4/E07D0EC1-48E0-4009-A76F-9728B38260F1.htmlhttps://www.nzz.ch/international/im-frankfurter-bahnhofsviertel-verzweifeln-gewerbetreibende-an-drogenhandel-prostitution-und-gewalt-ld.1630733?rflmnt=adnz%3B%3B%3Bbc%0Ahttp://www.apple.com/de/shapeimage_2_link_0shapeimage_2_link_1shapeimage_2_link_2shapeimage_2_link_3shapeimage_2_link_4