Die blinde Bahn
Wie ein Verkehrsmittel ruiniert wird
Carl-Josef Kutzbach
Mittwoch, 25. August 2021
 
Rangieren, ankuppeln, abkuppeln, ein ganzes Buch, in dem Rangieraufgaben, ähnlich wie Rechenaufgaben, zu lösen waren, gab es, als ich ein Kind war und eine Modelleisenbahn bekam, und zwar so, dass man möglichst wenige Fahrten und damit wenig Zeit brauchte. Der große Vorteil der Bahn bestand ja in ihrer Anpassungsfähigkeit an wechselnde Aufgaben. Drohte ein Zug überfüllt zu werden, wurden ein oder zwei Wagons angehängt. sogar Güterwagen konnten an Personenzüge angehängt werden, wenn das nötig war. Man hatte Reserven.
Ein großer Vorteil für Reisende waren Kurswagen, die dem Reisenden das Umsteigen ersparten, weil sie einen Teil der Reise am Zug A und die Fortsetzung am Zug B bis zum Ziel des Reisenden angehängt verkehrten. Das gibt es heute in Deutschland nur noch zu einigen Nordseeinseln, denn mit der Einführung von „Wendezügen” 1995, also ganzen Zügen, die am einen Ende eine Lok und am anderen Ende einen Steuerwagen haben und aus einer festen Anzahl von Fahrzeugen bestehen, oder Triebwägen mit zwei Fahrerständen, ist das nicht mehr möglich.
Damit ging nicht nur das Rangieren bei Personenzügen verloren, sondern vor allem der System-Vorteil: Anpassungsfähigkeit. Gewonnen wurde angeblich Fahrzeit, die mit Rangieren, sei es um Kurswagen anzuhängen, oder an der Endstation die Lokomotive an das andere Ende des Zuges zu bringen, verbracht worden war. Die Bahn sollte vor allem schnell sein. Deshalb hat man auch Puffer im Fahrplan beseitigt und Gleise, die ein Überholen ermöglichten, was dazu führte, dass die Bahn immer unpünktlicher wurde und das Sprichwort: „Pünktlich, wie die Bahn!” seinen Sinn ins spöttische Gegenteil verkehrte.
Dafür wurden „Rennstrecken” angelegt, wie die Stuttgart-Mannheim, oder Frankfurt-Köln. erstere hielt knappe 30 Jahre, bis sie gründlich überholt und dafür gute 200 Tage gesperrt werden musste. Bei Letzterer war - oh Wunder - wegen der höheren Geschwindigkeiten der Verschleiß größer, als gedacht. Da auch dort Züge mit fester Länge verkehren, ergibt das vor und nach Wochenenden überfüllte Züge, in denen manchmal nicht mal eine Platzkarte etwas nützt, weil man gar nicht bis zu seinem Platz durch kommt. Wie war das mit der verunglückten Satz: „Genießen sie das Leben in vollen Zügen!”
1998 ereignete sich in Eschede ein schwerer ICE-Unfall, bei dem über 100 Menschen starben und etwa ebenso viele verletzt wurden. Ursache war vor allem ein neu entwickeltes Rad mit einem Radreifen, der auf Gummi sitzt, um Erschütterungen zu vermeiden, der aber - obwohl als schadhaft gemeldet - nicht ausgetauscht worden war. Die juristische Aufarbeitung war für die Betroffenen und für die Öffentlichkeit unbefriedigend: Niemand war schuld.
All das geschah ab 1995, warum? 1994 wurde die Bahn zu einer privatwirtschaftlichen Firma  und sollte an die Börse gebracht werden. Da wollte man wohl zeigen, dass neue Besen gut kehren, indem man Vieles änderte. Zudem kamen viele führende Kräfte nicht von der Bahn, sondern aus der Automobilbranche, meinten aber, sie verstünden das Geschäft. Man entließ Personal, legte Gleise, die man nicht für nötig hielt, still, hängte Firmenanschlüsse ab und verkaufte Bahnhöfe an einen Investor, der sie, wegen seiner Pleite, nicht weiter verkaufen konnte, weshalb die Bahnhöfe samt ungenutzten Gleisen in vielen Orten zum Schandfleck vergammelten. Reisenden bot sich Jahrzehntelang das Bild einer Reise durch die herunter gekommenen Hinterhöfe des Landes. Trotz zeitweiligem Stahlmangel und hohen Stahlpreisen hielt man es nicht für nötig die ungenutzten Gleise auszubauen und zu verkaufen.
Zugleich kaufte die DB im Ausland Beteiligungen, so dass heute nur noch 71 von 300 Tochterfirmen mit dem Bahnverkehr in Deutschland zu tun haben. DB, bzw. Tochterfirmen sind heute der wichtigste Transporteur zwischen den USA und Ostasien. In England musste die staatliche Aufsicht der DB eine Linie wieder entziehen, weil offenbar die Leistung ungenügend war. Man übertreibt wohl nicht, wenn man behauptet, dass die Führung der Bahn es seit 1994 geschafft hat in 25 Jahren mehr Schulden anzuhäufen, als die Deutsche Bundesbahn von 1949 bis 1994 ( 45 Jahre ) angesammelt hatte, was dann zu der als „Bahnreform” verkauften Entschuldung auf Kosten des Steuerzahlers und zur Privatisierung des Infrastruktur-Unternehmens führte, die man daher ebenfalls als gescheitert bezeichnen könnte.
Der Güterverkehr, bei dem man ebenfalls auf „Ganzzüge” setzte und den Verkehr von Haus zu Haus weitgehend abschaffte, schreibt seit Jahren rote Zahlen und verliert Anteile an die Straße ( die Bahntochter Schenker mit ihren Lkws ), obwohl der Gesetzgeber anderes wünscht. Auch die Steigerung des Personenverkehrs, die der Umwelt dienen soll, ist zweifelhaft, weil die Kapazitäten teilweise verringert werden, wie bei S21 (der Tieferlegen und Verkleinerung des Stuttgarter Hauptbahnhofes, der einst der pünktlichste Deutschlands war ).
Wenn man alte Reiseberichte studiert, dann war die Bahn als Staatsbetrieb in den 20-30er Jahren auf manchen Strecken genau so schnell, oder sogar schneller als heute. Wobei man fairer Weise zugeben muss, dass die Deutsche Teilung manche Strecke zerschnitt, was man aber ab 1990 nicht wieder reparierte. Bahnkenner können viele Strecken aufzählen, auf denen man früher, aber auch noch in den 70er Jahren schneller reiste, als heute.
Es ergibt sich daher die Frage, ob der Bau von Schnellfahrstrecken wirklich so sinnvoll ist, wie behauptet. Meines Wissens verkehren auf keiner dieser „Rennstrecken” die vor dem Bau prognostizierte Anzahl an Zügen, sondern weniger, was die Wirtschaftlichkeit senkt. Die neue Strecke über die Schwäbische Alb nach Ulm wurde überhaupt nur mit Hilfe von - nicht existenten - neuen „leichten Güterzügen” wirtschaftlich. Betrug, oder Betriebsblindheit?
Wenn man die Verringerung der Geschwindigkeiten auf mancher Rennstrecke betrachtet, die der Schonung des Materials dienen soll, dann ist das ein Indiz für die Fragwürdigkeit. Ein weiters zeigte sich an der Strecke Stuttgart-Mannheim, die nach knapp 30 Jahren an über 200 Tagen renoviert werden musste. Das bedeutet, die alten Strecken müssen zusätzlich unterhalten werden, um eine Ausweichmöglichkeit zu haben. Das wird auch bei der neuen Strecke Stuttgart-Ulm so sein, dass man das Filstal und die Geislinger Steige weiterhin braucht. Man muss also zwei Strecken, statt einer unterhalten, wovon die neuere Strecke häufig wegen Brücken und Tunnels die viel teurere ist und knapp alle 30 Jahre gesperrt und saniert werden muss. Einziger Vorteil: Auf den alten Strecken ist mehr Nahverkehr möglich, wenn die schnellen Züge die Neubaustrecken benutzen.
In den Notizen meines Vaters finde ich Verbindungen, wie den „Fliegenden Hamburger” dessen Fahrzeit nach Berlin erst 1997 von einem ICE übertroffen wurde. Außerdem gab es viele Nachtverbindungen, so dass man den nächsten Tag am Zielort nutzen konnte. Von Dresden nach Genua fuhr man abends ab, schlief im Schlafwagen und war am nächsten Nachmittag dort. Das geht heute mit mehr Umsteigen, ohne Gepäckbeförderung und ohne Schlafwagen zwar auch, aber man darf ein paar Stunden nachts im Frankfurter Hauptbahnhof herumsitzen. Kein wirkliches Reisevergnügen!
Im Kalender meines Vaters sind alle Tarife der Bahn auf einer DIN A 7 Doppelseite zu finden.  So einfach geht das heute nicht mehr, denn die Tarifvielfalt macht sogar Bahnmitarbeitern Schwierigkeiten, die sich weitgehend auf das „Elektronische Kursbuch” und die elektronischen Fahrplan-Auskunft im Internet stützen müssen, wo sie auch der Laie finden kann. Ob das 2008 eingestellte Kursbuch auf Papier vielleicht die umweltfreundlichere Variante war?
Die größte Verspätung, die mein Vater notierte, war auf der Transib ( Transsibirische Eisenbahn ), was seiner Beobachtung nach am runter gewirtschafteten Material lag, so dass er im Winter 1931 ungefähr 34 Stunden später ( nach 11 Tagen Fahrt von Berlin) in Harbin ankam. Von Verspätungen in Deutschland finde ich kein Wort. Wer heute in Deutschland Bahn fährt, sucht sich tunlichst eine direkte Verbindung ohne Umsteigen heraus, denn da die Fahrpläne dermaßen knapp kalkuliert sind, klappt das Umsteigen oft schon bei einer kleinen Störung ( bis 6 Minuten ) nicht mehr. Da es keine Kurswagen mehr gibt, muss man manchmal umsteigen und verliert dabei häufig die ganze Zeit wieder, die man durch die Schnellfahrstrecke gewonnen hat, ja braucht länger, als wenn man auf der alten Strecke gefahren wäre.
Das ist nichts Neues. Schon vor ungefähr 20 Jahren machte ich die Erfahrung, dass ich kaum schneller nach München kam, als vor 50 Jahren, dafür aber in München den kleinen Zeitgewinn auf der Fahrt mit der S-Bahn zum Ziel wieder einbüßte. Wo ist da der Fortschritt?
Sicherlich war die Deutsche Bahn, als sie ein Staatsbetrieb war, teurer, aber sie war auch zuverlässiger. Dank Nachtzügen und Kurswägen konnte man große Entfernungen in vernünftigen Zeiten bewältigen. Curt Goetz beschreibt in seinen Memoiren, wie er abends nach der Vorstellung in Nürnberg zum Zug eilte, am nächsten Morgen in Berlin ein Vorsprechen absolvierte und abends zur Vorstellung wieder in Nürnberg war. Mein Großvater, der seiner Verlobten in Berlin von Nürnberg aus Briefe schrieb, brachte diese 1901 abends zur Bahn und dank Postwagons erhielt sie den Brief am nächsten Tag; und das ohne Postflugzeuge, die den Leuten in der Nähe des Flugplatzes den Schlaf rauben.
Ich frage mich daher, ob nicht die gesamte Strategie der Bahn ( und der Politik ) falsch sein könnte, dass man meint, man könne durch schnellere Züge mehr Leute dazu bringen vom Auto oder Flugzeug auf die Bahn umzusteigen. Solange die Bahn nicht zuverlässig ist und sich Verspätungen bis zu knapp sechs Minuten als „pünktlich” schön rechnet, ist sie nicht attraktiv. Das wird aber - weil man wegen der Bilanz die Pflege von Gleisen, Signalen und Fahrzeugen vernachlässigte - noch Jahre so bleiben. Zwar freut sich eine junge Familie, wenn die Fahrt nach Köln zu den Eltern dank der Schnellfahrstrecke nicht mehr ganz so lange dauert, wie durch das Rheintal, aber deswegen fahren sie wohl kaum öfter nach Hause. Andere, die es nicht so eilig haben, fahren die billigere Rheinstrecke und geben das gesparte Geld für einen Wein im Speisewagen aus ( wenn der Zug noch einen hat ). Dort genießen sie die schöne Fahrt durch das Weltkulturerbe Rheintal, statt Tunnel und Lärmschutzwände zu betrachten.
Wenn aber die Bahn für Geschäftsreisende wegen ihrer Unzuverlässigkeit noch auf Jahre hinaus nicht sehr verlockend ist, wird der Umstieg von Auto und Flieger ( mit und ohne Pandemie ) wohl kaum gelingen. Selbst Urlauber, die gerne Bahn fahren, werden sich das überlegen, sobald sie öfter umsteigen müssten und auf viele Bequemlichkeiten verzichten müssen ( Gepäcktransport im Zug, so das man es am Ziel in Empfang nehmen kann, Speisewagen, die mehr bieten, als eine Kantine, geschweige denn die Bistro-wägen mit ihrem mageren Angebot aus der Mikrowelle, keine Möglichkeit im Schlafwagen lange Strecken zu reisen, oder im Kurswagen unbeschwert zum Ziel zu kommen ). Kurz: Die Bahn ist blind für die Bedürfnisse der Bevölkerung und des Landes, sowie für die Möglichkeiten des Systems Bahn.
Damit verfehlt aber Deutschland auch seine Klimaziele. Schon allein deswegen gehörten Verkehrsminister und Bahnchefs der letzten Jahrzehnte entlassen und ihre Pensionen gekürzt. Ob das allerdings schon genügen würde, um die Nachfolger zu besserer Arbeit zu bringen, ist nicht sicher.
 
Das Bild oben zeigt eine Abfahrtstafel, die fast nichts anzeigt. Also auch keine Zugausfälle, Verspätungen, Gleiswechsel, sondern nur auf die papiernen Aushangfahrpläne verweist, die heute - um zu sparen - so klein gedruckt sind, dass Ältere die Brille zücken müssen.