Besitz? Besetzt!
Was ist das eigentlich: Besitz?
Carl-Josef Kutzbach
Dienstag, 21. August 2018
 
Wenn man auf einem Stuhl sitzt, dann ist dieser Stuhl „besetzt” und es kann sich niemand anders darauf setzen, solange bis man aufsteht und den Stuhl frei gibt. Angeblich soll Gandhi gesagt haben, dass niemand mehr als einen Stuhl benötigt, man also alle weiteren Stühle weggeben könne. Streng genommen stimmt das, denn jede und jeder könnte bei einem Besuch den eigenen Stuhl mitbringen. Das ist zwar etwas umständlich, wäre aber machbar.
Daneben gibt es aber in vielen Gesellschaften „Stühle”, die für alle da sind, Parkbänke, Sitze in Bussen und Bahnen, Kirchenbänke, Stühle und Tische in Gasthäusern. Da ist klar, dass man sie nicht mitnehmen soll, sondern nach dem Gebrauch für Andere frei macht.
Es heißt, dass die Ureinwohner Australiens sich bedanken, wenn sie der Natur etwas entnehmen, um es zu benutzen, etwa ein Blatt, um darauf zu musizieren und es dann wieder zurück legen. „Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geliehen!”, soll Khalil Gibran formuliert haben.
Das entspricht dem Artikel 14 im Grundgesetz, der fordert: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll jederzeit dem Wohle der Allgemeinheit dienen.” Die erwähnten Sitzgelegenheiten gehören mal dem Gastwirt, mal dem Verkehrsbetrieb, bzw. dessen Eigentümer, also oft den Bürgern, mal der Kirche, mal der Gemeinde, also mal einer Person und mal Gemeinschaften.
Aber gehören sie wirklich irgend jemand? Zunächst einmal muss sie jemand hergestellt haben (aus Material, das die Erde anbietet) und meist wird ein Anderer, oder eine Gemeinschaft diese Sitzgelegenheiten dann eintauschen oder kaufen. Umgangssprachlich würde man sagen, es habe ein „Besitzerwechsel” statt gefunden, obwohl keiner von beiden längere Zeit darauf gesessen haben dürfte, außer vielleicht zur Probe, ob die Sitze bequem sind. Wirklich „besessen” werden diese Sitzgelegenheiten erst von den Gästen, Fahrgästen, Kirchgängern oder Bürgern.
Hier zeigt sich schon, dass im Deutschen der Begriff „besitzen” mehrdeutig ist und mal Eigentumsverhältnisse beschreibt und mal eine Körperhaltung mit Hilfe einer Sitzgelegenheit. Was aber ist Eigentum? Wir kommen nackt zur Welt und sterben ebenfalls mehr oder minder nackt. Man sagt: „Das letzte (Leichen-) Hemd hat keine Taschen.” Eigentum kann also nur eine Beziehung beschreiben, die zwischen einem Lebenden und Gegenständen besteht. Diese Beziehung war vor der Geburt nicht da und endet mit dem Tod.
Man kann es sich vielleicht vorstellen, wie bei einem Fest, bei dem man einen Patz zugewiesen bekommt und dann ist das Gedeck an diesem Platz „mein Teller, mein Glas, mein Besteck”, aber sobald das Geschirr abgeräumt wird und in der Küche abgewaschen wird, ist es nicht mehr „meins”, sondern wieder das des Gastgebers.
Das Wort „Eigentum” ist mit dem Wort „aneignen” verwandt. Was kann man sich aneignen? Einen Gegenstand, wie das Gedeck oder einen Platz (für einige Zeit), oder aber Gedanken und Fähigkeiten. Dazu gehören Sprachkenntnisse, Lesen, Schreiben, Rechnen, aber auch Wissen und körperliche Fertigkeiten, die für den Beruf hilfreich sind. Letztere sind mit dem Tod der Person verloren, es sei denn er oder sie hätte sie an andere Menschen weiter gegeben.
Es scheint manchmal, als ob Ältere diese Aufgabe spüren, wenn sie im Alter versuchen noch möglichst viel weiter zu geben, etwa, in dem sie Bücher schreiben. Es kann natürlich auch die Angst davor sein, zu erkennen, dass man sein Leben so geführt hat, dass man wenig zum Weitergeben erwarb.
Gegenstände dagegen werden häufig vererbt. Dabei geht das Eigentum des Verstorbenen in das Eigentum anderer, meist Verwandter, über. Die erkennen häufig nur den materiellen Wert, aber nicht auch die Pflichten, die Eigentum (siehe Grundgesetz) mit sich bringt. Da streiten sich Erben und lassen solange das geerbte Haus leer stehen, bis es Schaden nimmt, oder, es kommt zu einer Zwangsversteigerung, bei der den Käufer nur das Grundstück interessiert und wie groß der Neubau sein darf, den er darauf stellen will, um den größten Gewinn heraus zu schlagen.
Der Unterschied zwischen Gegenständen und Erlerntem ist, dass man bei Erlerntem sehr schnell merkt, dass man dann Fähigkeiten einbüßt, wenn man es nicht ausübt und pflegt; man erinnert sich nicht mehr an Wörter und deren Übersetzung, oder an Fachbegriffe, oder wird ungeschickter beim Musizieren oder handwerklichen Tätigkeiten.
Beim Besitz dagegen meint man, dass es genügt ihn zu lagern. Aber das stimmt nicht, denn Möbel, deren Politur man nicht pflegt, verlieren an Wert und genau so Leder, das nicht hin und wieder gefettet wird, Scharniere, die man nicht gelegentlich ölt, Silber, das anläuft, Teppiche, die man nicht säubert, Parkett, das man nicht bohnert (oder, wenn es versiegelt ist, wischt), Pflanzen, die man nicht gießt, Dächer, die man nicht gelegentlich kontrolliert, Hauswände, deren Verputz man nicht ab und zu durch einen neuen Anstrich schützt, ein Garten, der verwildert, weniger Blüten und Früchte bringt und Vieles mehr. Geräte, die man nicht benutzt, bekommen Standschäden und funktionieren nicht mehr, in Häusern, die leer stehen, nistet sich Ungeziefer oder Schimmel ein. Manchmal brechen Leute ein, die mal etwas stehlen wollen, mal nur ein Dach über dem Kopf suchen.
Deshalb bestimmte der Übelhäusererlass von 1781 in Württemberg, dass man diejenigen, die ihre Häuser und Äcker nicht pflegen, enteignen könne. Auch wenn der Herzog dabei vielleicht eigene Interessen verfolgte, so ist doch der Grundgedanke richtig, dass Eigentum auch zu dessen Pflege verpflichtet. Weil nämlich das Angeeignete nur dann dem Wohl der Allgemeinheit dient, wenn es so lange genutzt wird, wie es taugt und in gutem Zustand an die nächste Generation (nicht nur die Erben) weiter gegeben wird.
Manche Sammler, die Dinge sammeln und durch Katalogisieren und Pflegen auch zukünftigen Generationen zugänglich machen, leisten einen Beitrag zu Geschichtsforschung, der ihnen meist nicht vergütet wird, der ihnen aber Freude macht und zugleich der Gemeinschaft dient.
Andere Leute (vom Bauern bis zum Villenbesitzer) meinen, sie dürften und könnten mit ihrem Besitz machen, was sie wollen. Es gehöre ja ihnen. Diese Ansicht blendet aus, dass die Erben auch Rechte an dem haben, was man sich zu Lebzeiten angeeignet hat, denn da der Besitz einer Person nur zu deren Lebzeiten zu dieser Person „gehört” (also in einer Beziehung zu dieser Person steht), endet diese Beziehung mit dem Tod.
Ein Mensch, der seinen Besitz zu Lebzeiten herunter wirtschaftet, hat er der Allgemeinheit geschadet. Sei es, dass von seinem verwilderten Grundstück Unkrautsamen auf das des Nachbarn gelangen, sei es, dass die Bausubstanz seines Hauses verfiel, obwohl das nicht nötig wäre, wie Fachwerkhäuser zeigen, die mehrere hundert Jahre alt sind. Ihre Bewohner und Besitzer haben über Generationen diese Häuser gepflegt und so erhalten.
Da der Besitz mit der Pflicht zur Pflege gekoppelt ist, kann einem der Besitz auch mal zu viel werden. Sei es, dass man im Alter nicht mehr die Kraft hat, oder auf Grund eigener (Krankheit, Verarmung, Verschwendung) oder fremder Einflüsse (Arbeitslosigkeit, Bankenkrise, Zinsverluste) nicht mehr das nötige Geld zur Pflege aufbringen kann. Dann kann es zu einem Widerstreit der Interessen kommen:
  1. Die Allgemeinheit legt Wert darauf, dass der Besitz gepflegt wird.
  2. Der Einzelne kann es aber nicht, will aber auch seinen Besitz (etwa das Elternhaus) nicht verlieren, vielleicht, weil ein Umzug im Alter eine Art von Entwurzelung und meist den Verlust der gewohnten Nachbarschaft bedeuten würde.
Es gab in Stuttgart den Fall einer alten Frau, der die Vermietung ihrer Wohnungen zu viel wurde, worauf diese – trotz Wohnungsnot – lang leer standen. Für solche Fälle sollten sich die Gemeinden überlegen, wie man die widerstrebenden Interessen unter einen Hut bringen kann. 1781 wäre einfach enteignet worden. Heute könnte man vielleicht Hilfsangebote (Übernahme der notwendigen Reparaturen oder der Vermietung) machen, die den Substanzverlust verhindern, ohne dadurch dem Besitzer und dessen Erben unangemessene Vorteile zu verschaffen.
Leider gibt der Staat zuweilen selbst ein schlechtes Vorbild: In der Neckarstraße in Stuttgart überstanden mehrere alte Stadthäuser den 2. Weltkrieg halbwegs unbeschadet, aber der Eigentümer, das Land Baden-Württemberg, ließ sie so lange herunter kommen, bis eine Sanierung nicht mehr wirtschaftlich erschien, und riss sie dann alle ab, um dort ein neues Verwaltungsgebäude für seine Mitarbeiter zu erstellen. Wundert sich da noch jemand, wenn es Privatleute oder anonyme Investoren genau so machen?
Vermutlich sind viele Menschen seit der Zeit der „Jäger und Sammler” darauf aus immer mehr Güter zu sammeln und zu horten. Das war bei Lebensmitteln sicher wichtig, um den Winter zu überstehen. Heute dagegen gibt es Menschen, die das Weggeben, ja sogar das Wegwerfen von Unbrauchbarem, nicht mehr beherrschen und von ihrem Angesammelten fast aus der Wohnung verdrängt werden. Wie und wann ist da eine Fehlentwicklung eingetreten? Nicht nur hier besetzt der Besitz das Leben des Besitzers.
England und Deutschland
Wer England bereist, sieht vor allem Zäune und Hecken, die den Zutritt zu großen Teilen der Landschaft verwehren. Wer wandern will, muss öffentliche Wege (public footpath) benutzen. Das kommt daher, das vor rund 200 Jahren der Adel sich das Land, das bis dahin meist gemeinschaftlich bewirtschaftet wurde (Allmende), durch ein Gesetz aneignete und damit begann alle Anderen von dem nun ihnen gehörenden Land, egal ob Feld, Wald oder Weide, zu vertreiben. Dank der damals beginnenden Industrialisierung fand wenigstens ein Teil derer, die nun keine Landwirtschaft mehr betreiben konnten, Arbeit und ein mageres Auskommen.
Es wird von Gegnern des Allmende-Gedankens häufig behauptet, dass etwas, das allen gehört, nie so gut gepflegt werde, wie das, was jemand gehört. Folgt man dieser Argumentation, dann müsste der größte Teil Englands längst umweltfreundlich und ökologisch bewirtschaftet werden. Das ist aber, trotz einzelner Initiativen, nicht flächendeckend der Fall. Der Landadel erweist sich also nicht als der klügere, nachhaltigere Bewirtschafter.
Ob allerdings die gemeinschaftliche Bewirtschaftung bessere Ergebnisse erbracht hätte, ist ungewiss. Die Kampagne „Keep Britain tidy“ (Erhaltet England sauber (hübsch aufgeräumt).) wäre wohl nicht nötig gewesen, wenn sich alle vorbildlich und Gemeinwohl-orientiert verhalten hätten. Aber warum sollten die Ärmeren etwas pflegen, was sowieso anderen Leuten gehört und ihnen nur einen Platz am Rande bietet?
Besitz, Landschaft und Bildung
In Deutschland gab es zwei Entwicklungen, die mit dem Erbrecht zusammen hängen: In Norddeutschland bekam der älteste Sohn den Hof mit allem Land, in Süddeutschland musste der Hof unter allen Söhnen verteilt werden, so dass die Äcker immer kleiner wurden und oft nicht mehr ausreichten um die Abgaben zu bezahlen und um davon satt zu werden, was zur Leibeigenschaft führen konnte. Solange man um die großen Felder im Norden Hecken (Knicks) stehen ließ, die Windschutz und Lebensraum für Insekten und Vögel boten, die dann auch Unkräuter und Schädlinge auf den Feldern fraßen, funktionierte das ökologisch halbwegs. Im Süden führten die immer kleineren Äcker dazu, dass die Artenvielfalt größer war und sich Schädlinge schwerer taten, weil sie immer erst eine Strecke weit zum nächsten Acker zurück legen mussten, ehe sie wieder fressen konnten. Die großen Felder im Norden dagegen waren ein gedeckter Tisch.
Erst die Flurbereinigung (ab 1957) sorgte für ein Ende des süddeutschen Flickenteppichs und für Felder, die wirtschaftlich zu beackern waren. Feldwege wurden asphaltiert und Trampelpfade zwischen den Feldern verschwanden, aber das Recht die freie Landschaft zu betreten - nicht jedoch Felder oder Weiden nieder zu trampeln, oder mit Fahrrädern im Wald den Boden zu beschädigen - blieb erhalten, so dass man immer noch durch Wiesen und Wald wandern kann, ohne sich drum kümmern zu müssen, wem sie gehören.
In Süddeutschland führte diese so genannte Realteilung zur verarmten Bauern, die als Leibeigene oder Abhängige arbeiten mussten. Im Norden musste der zweite Sohn eine kirchliche Laufbahn einschlagen und der Dritte war frei, hatte aber kein Erbe. Das führte im Norden zu großen reichen Höfen und Vielen, die als Knechte und Mägde arbeiten mussten, also kaum eine Chance auf Bildung bekamen, weshalb einige in die Städte gingen und andere auswanderten.
Im Süden machte die Armut erfinderisch, zumindest einige, die weder in den Städten Zuflucht fanden, noch auswanderten. Es dürfte schon sehr früh Landwirte mit einem Nebenerwerb  (Kuckucksuhren, Löffel oder Puppen schnitzen) gegeben haben, während heute manche Industriearbeiter im Nebenerwerb Landwirte sind. Die vielen Erfindungen im süddeutschen Raum dürften in häufig auch aus Not entstanden sein, wobei seit der Reformation in evangelischen Landen auch Einiges für die Bildung getan wurde.
Dieser Vergleich zeigt, welche Auswirkungen Besitz auf die Landschaftsgestaltung und die Gesellschafts-Entwicklung hat, aber auch auf Bildung und Handwerk. Der Besitz darf also schon deshalb nicht der Willkür des Einzelnen unterworfen sein, da er so weit reichende Wirkungen auf die gesamte Gesellschaft und die Gestaltung der Landschaft entfaltet.
Daher muss man bei der gegenwärtigen Entwicklung in Deutschland, die immer mehr Arme und einige wenige sehr Reiche schafft, aber den Mittelstand verringert, befürchten, dass eine ähnliche Entwicklung, wie einst in England stattfinden könnte, die dort lange Zeit zu Armut, großen gesellschaftlichen Problemen, aber auch zu den Gewerkschaften führte.
Zwar ist es Aufgabe der Politik solche Fehlentwicklungen zu verhindern, aber, da jede und jeder von uns dies oder das besitzt, oder öffentliche Einrichtungen benutzt, kann der Einzelne auch selbst etwas für eine bessere Zukunft tun:
  1. 1.So viel lernen, wie möglich, denn das kann einem niemand nehmen und macht es wahrscheinlicher, dass weniger Wissen verloren geht.
  2. 2.Nur solche Gegenstände erwerben, die man wirklich braucht.
  3. 3.Die Gegenstände, die man besitzt, so pflegen, dass sie möglichst lange halten und man möglichst wenig Ersatz beschaffen muss.
  4. 4.Öffentliche Güter pfleglich behandeln, so dass sie möglichst vielen Menschen gute Dienste leisten können.
  5. 5.Immer bedenken, dass die Erde endlich ist und sie daher alle Menschen sich teilen müssen.
  6. 6.Bedenken, dass man sterblich ist und nichts mitnehmen kann.
  7. 7.Erwägen, wie man seinen Besitz auch für andere nützlicher gestalten könnte.
  8. 8.Da Besitz mit Pflichten gekoppelt ist, kann er auch das ganze eigene Leben damit ausfüllen. Dann besetzt der Besitz das eigene Leben. Nur durch Weggeben eines Teils, wird man wieder Freiräume für das eigene Leben schaffen.
Beides, das Handeln des Einzelnen und die Politik sind wegen der gegenseitigen Wechselwirkungen nötig, wenn sich das Wohlergehen aller verbessern soll.