Kultur und Zeit
Carl-Josef Kutzbach
Sonntag, 7. Februar 2021
 
Höhlenmalerei, Bauten, sei es als Behausung oder als Mittel um Wasser zu bändigen (Zweistromland), Geräte, die nicht nur praktische Bedeutung haben, wie Musikinstrumente, oder Kunstwerke über Schriften (dreisprachiger Stein von Rosetta) und später Schriftrollen, Bildrollen und Bücher, ihnen allen ist gemeinsam, dass wir sie heute zur Kultur zählen.
Wenn sie aber nicht aus so haltbarem Material geschaffen worden wären, oder sich an günstigen Stellen so gut erhalten hätten, was würde man dann Kultur nennen? Erst die Werkzeuge der Steinzeit, Eisenzeit, Bronzezeit, oder nur große Bauten, wie die Pyramiden, Inka-Städte, oder Tempelanlagen? Ob etwas von heute aus betrachtet als Kultur gilt, hängt also auch davon ab, ob es über Jahrhunderte, Jahrtausende erhalten blieb und gefunden wurde. Man vermutet auf Grund von Funden, dass auch die Nutzer der Höhle „Hohler Fels” auf der Schwäbischen Alb die Wände bemalten, aber der abblätternde, oder bröselige Stein das sehr rasch wieder vernichtete, so dass man fast keine Spuren mehr findet, oder die Menschen damals das nicht sehr lange betrieben.
Damit wird ein Gesichtspunkt der Kultur sichtbar, den man meist außer Acht lässt, nämlich, dass Vieles, was wir zur Kultur zählen, Dinge sind, die Zeitreisen ermöglichen. Im Forschungsbereich „Roceeh” (die Rolle der Kultur bei der Entwicklung früher Menschen) hat man aus den verschiedenen Funden versucht zu ermitteln zu welchem Denken die Menschen damals fähig waren. Man fand dabei unter anderem, dass die Benutzung des Feuers bei der Zubereitung von Lebensmitteln dazu führte, dass Opa und Oma länger lebten und den Eltern einen Teil der Erziehungsarbeit abnahmen, indem sie nicht nur auf die Kinder aufpassten, sondern den Kindern auch von früher, von Sitten und Gebräuchen erzählten, also Traditionen (Überlieferungen) schufen und vielleicht auch Lieder und Märchen. Ein Forscher nannte diesen Befund mal nur halb ironisch „die Großmutter war die Mutter der Kultur“.
Wieder geht es um die Überwindung des Augenblicks, also um Zeitreisen, einerseits indem von vergangenen Ereignissen berichtet wird, andererseits, indem etwas weiter gegeben wird, was in Zukunft wertvoll sein könnte. Dabei gibt es keine Funde der mündlichen Überlieferung, aber an Hand von Gilgamesch-Epos oder von Illias und Odyssee, die offenbar mündlich weiter gegeben wurden, ehe sie jemand aufschrieb, kann man vermuten, dass es auch schon früher sehr umfangreiche Texte gegeben haben könnte, die nur mündlich weiter gegeben wurden. Aber ist das keine Kultur? Es ist verständlich, aber eine sehr große Verengung des Blicks, wenn man nur das als Kultur bezeichnet, von dem man gegenständliche Funde hat.
Das wird deutlich, wenn man sich im Konzert, oder mittels Aufzeichnung, Musik anhört, die große Künstler vor ein paar hundert Jahren geschaffen haben, teils als Begleitmusik, wie bei Telemanns Tafelmusik, teils als etwas, was man aufmerksam anhören muss, um einen Zugang zu finden, der dann zum Genus führt. Solche Musik wurde zunächst in Noten festgehalten, die als Schrift eine Brücke über Zeit und in gewissem Sinn auch Raum bildet, weil sie, ohne selbst zu klingen von Ort zu Ort gebracht werden kann, wo sie dann wieder zum klingen gebracht wird, wenn jemand die Schrift liest und sein Instrument so beherrscht, dass er das Notierte zu spielen vermag. Witziger Weise wird man die Noten noch in ferner Zukunft entziffern können, wenn man sich die Mühe macht, aber die Musik, die erst auf Platte, dann auf Tonband und schliesslich digital auf CD oder als Datei im Rechner gespeichert wurde, wird man ohne die nötigen Geräte und Programme nicht mehr erklingen lassen können.
Anderseits stirbt mit jedem Musiker auch seine Fähigkeit derartige Musik zu spielen, so dass es eine Zeit geben könnte, in der sie nicht mehr erklingt, weil niemand mehr die nötige Beherrschung eines Instrumentes erlernt haben wird. Das konnte bei klassischer Musik recht schnell gehen, weil immer weniger Menschen den Zugang zu dieser nicht so leicht konsumierbaren Musik haben, eben weil sie eine gewisse Mühe, ein mehrfaches Anhören, ein sich darauf und die dabei entstehenden Empfindungen zu einzulassen erfordert.
Damit geht aber auch die Fähigkeit vieler Menschen zu einem sehr genauen Zusammenspiel verloren, die ein Orchester darstellt, das wesentlich komplexer ist, als ein Sportereignis mit zwei Mannschaften, die nicht mit, sondern gegeneinander antreten. Noch komplexer wird die Zusammenarbeit bei musikalischen Theateraufführungen, egal ob Operette oder Oper oder Musical, weil Musik und Text und Handlung zusammen passen müssen.
Es ist den meisten Musikliebhabern nicht bewusst, dass beim Zusammenspiel eines Orchesters eine Präzision erreicht wird, die auf anderen Gebieten nur mit technischen Hilfsmitteln erreicht werden kann. Ich kann nicht genau sagen, aber welcher Abweichung vom richtigen Ton, oder vom gemeinsamen Tempo der Zuhörer es merkt, aber ich erinnere mich, dass bei der Premiere von „Martha” (von Loriot) an einer Stelle ein Sänger den Ton nicht traf, es aber anscheinend nur von zwei alten Damen in meiner Nähe bemerkt wurde. Wenn man den Ton, als eine bestimmte Anzahl von Schwingungen in der Sekunde betrachtet, dann ist der falsche Ton, genau, wie das falsche Tempo wieder eine Erscheinung der Zeit.
So betrachtet ist Kultur nicht nur eine Brücke über die Zeit, sondern auch ein Mittel um die Zeit zu bewerten, eben dadurch, dass man gelernt und geübt hat das Richtige in der passenden Zeit (Ton, Tempo) zu tun (als Musizierende) oder zu erkennen (als Zuhörende).
Was es aussagt,wenn vor allem junge Menschen, aber auch solche, die nicht Erwachsen werden wollen, sehr stark auf Rhythmus achten und weniger auf den Ton, wäre einer Betrachtung wert. Vermutlich haben sie selbst wenig gesungen und dabei die Qualität des Klangs kennen gelernt, können kein Instrument spielen und „ziehen sich den Rhythmus rein”, weil sie selbst noch nicht gelernt haben ihrem Leben Rhythmus und Klang / Farbe zu geben.
Eine alte Dame in einem Café, das ich viele Jahre besuchte, beklagte, dass man mit niemand mehr singen könne, geschweige denn mehrstimmig. Da ist offenbar eine Übung der Harmonie verloren gegangen, die der Gesang und erst recht der Mehrstimmige bedeutet und zu der man keinerlei Geräte braucht. Singen erfordert nur, dass man sich auf das Lied, die Tonlage und das Tempo einigt. Das geschieht angeblich heute noch sehr häufig in Finnland in Schulen und war früher auch bei uns auf allerlei Festen weit verbreitet, wobei auf Familienfesten oft die Texte der Lieder umgedichtet wurden, um entsprechende Geschichten zu dem Fest beizutragen. Es wurde also eine Beziehung zwischen bekannten Liedern und Geschichten, die in der Familie oder Gruppe geschehen waren, erzeugt und in eine vorgegebene Form gebracht.
Wenn Goethe zum Augenblick meint, „verweile doch, du bist so schön!”, dann entspricht das der von Han Suin mitgeteilten chinesischen Gewohnheit bei allen möglichen Gelegenheiten schöne Verse oder Texte zu verfassen, eben um diesen Augenblick in eine zeitlose Form zu bringen.
Kultur hat also viel mehr mit der Zeit zu tun, als man annimmt.
 
Foto: Ein Forscher öffnet den Kasten der Frauenfigur aus dem Hohle Fels, genannt „Venus von Schelklingen” (der nächsten Siedlung), die ein Mensch vor etwa 40 000 Jahren schuf.