Auf Kante genäht
Geiz zum Schaden Aller
Carl-Josef Kutzbach
Dienstag, 6. Juni 2023
 
Der Begriff „auf Kante genäht” ist nicht mehr allen geläufig. Er meint, dass an einer Naht zwischen zwei Stoffstücken zu wenig Saum gelassen wurde, oder der Stoff überhaupt nicht eingesäumt wurde, so dass die Naht bei Belastung Stücke aus dem Stoff herausziehen kann, wodurch die Naht aufgeht und das ganze Kleidungsstück wertlos wird. Ist der Saum breit genug, hält er den Zug aus, den die Naht auf den Stoff ausübt.
„Auf Kante nähen” geschieht in der Regel aus Not ( man hat zu wenig Stoff ), oder aus falscher Sparsamkeit, die heute meistens dem Steigern der Gewinne dienen soll. Ein Beispiel: Ein Pyjama von Seidensticker hatte erst im Hosenbund ein Gummiband, das man austauschen konnte, sobald es ausgeleiert war. Man konnte es auch mittels eines Knopfes und dem entsprechenden Knopfloch enger stellen. Die Jacke dazu hatte mehrere Taschen. Im Laufe der Jahre verschwanden das austauschbare Gummiband und einige der Taschen. Bei Hosen sparen manche Hersteller Gürtelschlaufen ( fünf statt sieben ) mit dem Ergebnis, dass die Hose nicht gut sitzt. Noch ein Beispiel: Bei Hemden wurde die Knopfleiste und ebenso die Leiste für die Knopflöcher immer schmaler und die Ecken des Kragens zogen sich bis auf Schulterhöhe zurück. Für Letzteres wird sicher die Mode als Ursache angegeben werden, aber Ersteres ist eher auf Geiz zurück zu führen.
Es geht also bei dem Begriff „auf Kante genäht” nicht darum mit vorhandenem Material sparsam umzugehen, soweit es die technischen Rahmenbedingungen, z.B. die Qualität des Stoffes zulassen, sondern um ein Abweichen von vernünftigen Herstellungsweisen, die eine lange Nutzbarkeit des Stückes versprechen. So ähnlich, wie die bei vielen Kleidungsstücken irgend wo angenähten Ersatzknöpfe. Wobei man sich fragt, wer den heute noch einen Knopf annähen kann.
Das es um die Gewinnmaximierung durch übertriebene Sparsamkeit geht, kann man in vielen Bereichen beobachten. Beispiel Bahn: Wer eine Fahrkarte lösen will, hat eine ziemlich große Auswahl, wenn er nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt irgend wo ankommen will. Die Preise für die Fahrkarte reichen von sehr günstigen Angeboten, wenn man sie ein paar Tage früher löst, auf die Umtauschmöglichkeit verzichtet und man am Besten mitten in der Nacht fährt. Was nicht nur die Deutsche Bahn macht, ist, die Kunden zu jenen Zügen zu drängen, die noch nicht so voll sind, oder weniger ausgelastet, als andere. Das ist zunächst einmal nicht verkehrt, denn aus Sicht der Technik und der Wirtschaftlichkeit ist es sinnvoll, wenn möglichst alle Züge und Bahnhöfe möglichst gleichmässig ausgelastet sind. Aber was bewirkt das?
Soziale Sortierung
Wer genügend Geld hat, fährt, wann es gefällt und besorgt sich eine Platzkarte. Wer dagegen knapp bei Kasse ist, wird dann fahren, wenn es billiger ist, oder sogar riskieren, dass er die Fahrkarte nicht umtauschen kann, falls man die Fahrt verschieben muss. Man ist an einen bestimmten Zug gebunden und wehe man erreicht den Anschlusszug beim Umsteigen nicht, dann ist man auf die Kulanz der Bahn angewiesen und auf Glück, dass man sein Ziel überhaupt noch erreicht, wenn man etwa abends fährt, weil es da billiger ist. Wer dann in der Not ein Taxi nimmt, oder übernachtet, kann sich auf einen längeren Streit mit der Bahn einrichten, weil man nicht erst von einem Mitarbeiter der Bahn einen Gutschein dafür geholt hat. Ja wo denn, wenn die meisten Bahnhöfe verwaist sind?
Da die Bahn nur noch bei jedem zweiten Zug das Ziel, oder den Umsteigebahnhof innerhalb von sechs Minuten Verspätung erreicht, ist der Anschluss oft schon weg und man darf je nach Strecke eine halbe, eine Stunde, oder mehr warten, bis der nächste Zug kommt. Damit ist dann die gesamte Reiseplanung hinfällig. Was nützt es da, wenn man von der Bahn nach einigem Papierkram eine Entschädigung bekommt? Besser als nichts? Ja, aber der Ruf der Bahn leidet und man selber daran, dass man sich auf die Bahn nicht mehr verlassen und Reisen mit der Bahn nur noch so ungefähr planen kann.
Wer eine Fahrkarte buchen will, bekommt zunächst mal sehr günstige Angebote angezeigt, sobald man aber zu einer bestimmten Zeit fahren möchte, die Fahrkarte umtauschen können will, sich nicht an einen bestimmten Zug binden möchte, stellt man fest, dass es nun sehr viel teurer wird und die „Lockvogel-Angebote” rasch verschwinden. Will man dann noch ein Cityticket am Abfahrts- und Ankunftsort dazu buchen, weil man kein 49-Euro-Ticket hat, dann steigt der Preis weiter und die Auswahl sinkt.
Das alles ist aus Sicht der Bahnen wirtschaftlich sinnvoll, denn so können sie den Bedarf einigermaßen steuern. Aber das geht so weit, dass man für manche Züge ein besonderes Ticket haben muss, das an eine Platzkarte gebunden ist. Damit wird die Auswahl des Kunden weiter eingeschränkt. Das hängt auch damit zusammen, dass das Gleisnetz verkleinert wurde, aber die Zahl der Züge, die darauf verkehren sollen, stieg. Es ist schon vorgekommen, dass Fahrgäste, trotz gültiger Fahrkarte, Züge verlassen mussten, weil die überfüllt waren, oder vorzeitig ihre Fahrt beendeten, um wenigstens in der Gegenrichtung wieder halbwegs pünktlich zu starten.
Man merkt, dass es der Bahn nicht mehr um den zufriedenen Kunden geht, sondern darum mit den beschränkten Mitteln, die ihnen drei CSU-Verkehrsminister ( die Süddeutsche nannte sie „Die Zerstörer“ ) gönnten, möglichst wenig Verluste zu machen. Egal ob es um Weichem, Ausweichstrecken, Bahnhöfe, Personal oder Züge geht, überall wurde „auf Kante genäht”.
1936 passten sämtliche Fahrpreise der Bahn auf eine Doppelseite in einem DIN A 7 Kalender. Heute braucht man einen Internet-Zugang und viel Zeit.
Was die Bahn noch nicht gesagt hat ist, dass ähnliche Einschränkungen rund um Stuttgart auch 2024-2025 kommen werden, weil bisher nur ein Teil des über 60 km langen Netzes umgerüstet wird und der Rest ja auch noch bearbeitet werden muss, mit entsprechenden Sperrungen, da die Bahn nicht mehr „unter laufendem Rad”, also im Betrieb umzubauen gedenkt, wie das früher stets geschah.
Dass der „neue” Bahnhof ( der streng genommen nur noch ein Haltepunkt ist, weil die Gleise für einen Bahnhof, in dem man Züge bereit stellen kann, zu viel Neigung haben ) schon jetzt absehbar zu klein ist und allein deshalb nicht mehr Deutschlands pünktlichster Bahnhof sein wird, kommt hinzu. Dass er niemals wirtschaftlich werden dürfte, ist mittlerweile auch klar, denn die Baukosten explodierten auf über 10 Milliarden. Auch hier wurde wieder „auf Kante genäht”!
Dasselbe Bild bei Arztpraxen, Schulen, Hochschulen und Krankenhäusern, überall fehlt es an Personal, an Räumen, die funktionstüchtig sind und an Strukturen, die das Wohl der Menschen in den Vordergrund stellen und nicht das derjenigen, die in die Privatisierung investiert haben.
Es dürfte an den paar Beispielen klar geworden sein, dass die Menschen und ihre Bedürfnisse auf der Strecke bleiben, wenn Geld oder Gewinnmaximierung das oberste Ziel sind. Man sieht das auch bei vielen Zeitungen, denen ihre für die Demokratie unerlässliche Aufgabe der lokalen Berichterstattung völlig gleichgültig geworden ist, Hauptsache sie verdienen an den Daten der Internet-Nutzer, die sie mehr oder minder heimlich verkaufen, oder an dem, was die Leute anklicken. Die Wächteraufgabe der Presse wird vernachlässigt. Statt dessen lässt man Computer oder KI ( künstliche Intelligenz ), Polizeiberichte, Sportmeldungen und Anderes automatisiert ins Blatt heben, ohne, dass noch jemand mal Korrektur lesen würde, oder merkt, falls eine Meldung mehrfach erscheint. Rechtschreibung und Layout sind oft nur noch in Ansätzen zu erkennen. Fotos gibt es überall, aber meist ohne den Text inhaltlich zu ergänzen, also nutzlos. Hauptsache sie kosten nichts!
Wenn aber immer öfter „auf Kante genäht” wird, dann taugen nicht nur Kleidungsstücke immer weniger, halten nicht mehr so lang und sind damit eigentlich viel zu teuer. Die Bahn sollte eigentlich einen wichtigen Beitrag bei der Bekämpfung des Klimawandels leisten, indem sie Autofahrer zum Umsteigen animierte, wird dazu aber gar nicht in mehr Lage sein, weil man sie Jahrzehnte lang vernachlässigte ( drei CSU Verkehrsminister ) und auf Verschleiß fuhr.
Genau so werden viele Zeitungen bald nicht mehr in der Lage sein ihre Aufgabe für die Demokratie zu leisten, weil Geld wichtiger ist, als was Kunden und Demokratie bräuchten.
Wenn man bedenkt, dass der „Tanz ums goldene Kalb” Ursache für die Fehlentwicklungen ist, dann wird klar, dass auch das Wirtschaftssystem, so wie es heute ist, keine Zukunft mehr haben kann, weil es die falschen Anreize setzt und dazu verführt „auf Kante zu nähen”. Wie das in ein zukunftstaugliches Wirtschaften umgewandelt werden kann, ist nicht sichtbar, denn einerseits gibt es offenbar keine brauchbare Theorie, wie das funktionieren könnte und andererseits werden sich die ganz Reichen, dagegen zu wehren wissen, wenn man ihnen auch nur ein bisschen ihres Reichtums streitig macht. Dabei ist das eine reichste Prozent für 53 % der Umweltschäden verantwortlich. Das allein wäre schon ein ausreichender Grund hier etwas zu ändern. Aber ob das gelingt, ist zweifelhaft. Weltweit spüren die Menschen, dass es nicht gut läuft, aber weltweit suchen sie bei autoritären Anführern oder Populisten Zuflucht, was die Probleme nur verschärft. Wie soll das enden?
 
Das Bild oben zeigt eine Marken-Unterhose bei der zu sehr auf Kante genäht wurde. Um sie zu reparieren müsste man den ganzen Saum auftrennen, den Trikotstoff säumen und dann erneut in den Saum einnähen. Viel unnötige Arbeit, die man bei richtiger Herstellung vermeiden könnte.