Immer schneller,
immer schlampiger
Carl-Josef Kutzbach
Sonntag, 14. Juli 2019
 
„Im Internet dauert ein Jahr nur drei Monate!“ tönte ein Vortragsredner, der auf dieses Tempo stolz zu sein schien. Dabei hätte ihn der uralte Witz von den zwei Berliner Jungen stutzig machen müssen, die Hausaufgaben machten. „Fertig!” triumphiert der eine. Der andere jedoch antwortet: „In die Fixigkeit bist Du mich über, aber in die Richtigkeit bin icke Dir über!”
    Das hängt damit zusammen, dass Gründlichkeit Zeit braucht. Wir nehmen die Welt über unsere Sinne auf. Diese Sinne haben ganz bestimmte Geschwindigkeiten. Das merkt man am ehesten beim Film oder Video. Sobald 24 oder 25 Bilder je Sekunde angeboten werden, erscheint das als fließende Bewegung. Manchmal sieht man es auch an Fahrzeugrädern, die sich auf Grund ihrer Struktur scheinbar verkehrt herum drehen.
    Ähnlich ist das Gehirn getaktet, das mit chemischen und elektrischen Signalen arbeitet. Könnte man die beliebig beschleunigen, bräuchte man nicht nur mehr elektrischen Strom, sondern die Gefahr eines Kurzschlusses, oder einer unkontrollierten chemischen Reaktion wüchse. Trotzdem sind unsere Sinne erstaunlich schnell. Ob ein Gesicht gefällt, entscheiden wir in einer Viertel Sekunde, also an Hand von ca. 6 Bildern. Auch ungewohnte Geräusche, Bewegungen. Geschmackseindrücke oder Gerüche werden sehr schnell wahr genommen, weil das für das Überleben wichtig sein kann.
    Aber das Durchdenken eines Vorganges, oder einer Sache braucht Zeit, da man ja nicht nur Wahrnehmen muss, sondern das Wahrgenommene auch Verstehen muss, wozu man in vielen Fällen zusätzliches Allgemeinwissen braucht. Wenn man das nicht hat, muss man das notwendige Wissen erwerben, also lernen, ehe man einer Sache auf den Grund gehen kann.
    Erst, wenn man verstanden hat, was man wahr-nahm, kann man daraus Schlüsse ziehen und Urteile fällen. Erst dann kann Nach-Denken zu neuer Erkenntnis und Einsicht führen. Je nach dem, wie kompliziert die Sache ist, braucht man dafür viel Zeit, bei Philosophen manchmal ein ganzes Leben.
    Was haben wir statt dessen, wenn das Internet sich in drei Monaten so viel weiter entwickelt, wie die Welt in einem Jahr? Es wächst die Gefahr, dass der Einzelne nicht mehr mit kommt, weil er nicht so schnell ist. Das führt zu Unsicherheit und dazu, dass man so tut, als käme man noch mit und verstünde alles, während man genau spürt, dass das nicht der Fall ist. Es tut aber niemand gut, wenn seine Gefühle und sein Handeln nicht zusammen passen.
    Aber es tut auch der Gemeinschaft nicht gut. Armin Nassehi ist Professor für Soziologie an der Universität München und hat in einem Essay in der ZEIT (Die radikale Eigendynamik von Politik und Wirtschaft) auf die verschiedenen Geschwindigkeiten von Wirtschaft und Politik hin gewiesen. Die Demokratie wird durch Tempo nicht besser, weil die Abläufe, die dem Austausch von Argumenten in Parlamenten dienen und damit dem Nachdenken über die bestmögliche Entscheidung Zeit brauchen, während eine Diktatur rascher entscheiden kann. Es gibt dennoch wiederholte Versuche Entscheidungen, Zulassungen, Genehmigungen, Abwägungen zu beschleunigen. In vielen Fällen geht das zu Lasten der Gründlichkeit und der demokratischen Abläufe, die ja nicht aus Lust an Bürokratie entstanden, sondern, weil sie zum Beispiel dazu dienen sollen, allen eine Chance auf Gehör zu bieten. Beschleunigung der Abläufe dagegen bedeutet meist eine Verkürzung des Rechtsweges zu Lasten Einzelner, oder der demokratischen Qualität.
    Wenn die Wirtschaft das Tempo beschleunigt, was auch nur in manchen Branchen geht – in anderen dauert es immer noch zehn Jahre von der Idee bis zum fertigen Produkt – dann setzt sie die Politik unter Druck, dass sie schneller entscheiden möge, was aber die Qualität der Entscheidungen beeinträchtigt, weil die notwendige Gründlichkeit nicht mehr möglich ist. Wenn dann noch Interessenvertreter der Wirtschaft von Ministerien angeheuert werden, um Gesetzentwürfe zu schreiben, wird es bedenklich. Wobei ich der Wirtschaft nicht unterstelle, dass sie bewusst auf eine Diktatur hin arbeite, sondern nur, dass sie die Auswirkungen ihres Strebens und Handelns auf das Allgemeinwohl häufig nicht genug bedenkt.
    Angenommen, die Beschleunigung im politischen Bereich wäre schon zu weit voran geschritten, dann würde das erklären, weshalb anscheinend immer öfter Gesetze vom Bundesverfassungsgericht bemängelt werden, aber auch, weshalb Projekte begonnen werden, deren Fertigstellung sich immer weiter verzögert (z.B. BER, Elbphilharmonie), oder die sich als Fehlinvestitionen erweisen, weil sie unwirtschaftlich sind, wie Stuttgart 21 (der Tiefbahnhof, der den Stuttgarter Hauptbahnhof durch eine 8-gleisige unterirdische Haltestelle ersetzen soll). Auch manche Schnellfahrstrecke der Deutschen Bahn wird von weniger Zügen befahren, als geplant, ist also vielleicht unwirtschaftlich, zumal die alten Gleisstrecken erhalten blieben, um bei Streckensperrungen (Stuttgart-Mannheim demnächst 200 Tage) als Ersatz zu dienen. Die Schnellfahrstrecken sind also teure zusätzliche Infrastruktur, um dem Flugzeug Konkurrenz zu machen, verbessern aber das Gesamtergebnis der Bahn nicht, die vor allem im Regionalverkehr und durch Streckenbenutzungs-Gebühren Geld verdient. Ansonsten haben die rund 10 Verkehrsminister der letzten 20 Jahre tatenlos zugesehen, wie die Bahn sich immer weiter verschuldete und heute mehr Schulden (20-25 Mrd. €) hat, als vor der Bahnreform, aber dafür auch immer unpünktlicher wurde.
    An der Universität Stuttgart lehrte ein Architekt, dass Gebäude über eine gewisse Größe fast nie gut gelängen, weil sie von einem Einzelnen nicht mehr durchdacht werden können, also auch nicht seine Handschrift tragen können und daher nicht „aus einem Guss” würden. Da Parlamentarier noch weniger in der Lage sind Großprojekte gründlich zu durchdenken, werden sie oft „durch gewinkt“ und wenn sie später aus dem Ruder laufen, will keiner dafür die Verantwortung übernehmen.
    Die Tieferlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofes kommt im Bundesverkehrswegeplan nicht vor, ist also überhaupt nicht dringend. Für die Schnellfahrstrecke über die Schwäbische Alb wurden extra „leichte Güterzüge”, die es bisher noch nicht gibt, erfunden, damit die Strecke überhaupt wirtschaftlich wird. Dabei ist die neue Strecke noch steiler, als die bisherige, bei der die Steigung als Hindernis angesehen wird. Solche Details kann man aber vor den Parlamentariern mit hübschen bunten Animationen (Präsentationen, aber d.h. wörtlich Beseelungen) verbergen, die Eindruck schinden sollen, aber alle kritischen Punkte aussparen.
    Ich kann es nicht belegen, aber es wäre für mich nicht überraschend, wenn Großprojekte, bei denen es nicht so läuft, wie geplant, schlicht darauf zurück zu führen sind, dass die Zeit zum gründlichen Nachdenken fehlte. So soll der Jade-Weser-Hafen in Wilhelmshaven, der 2012 eröffnet wurde, um Containerschiffe mit großem Tiefgang be- und entladen zu können, erst 2022 einen zweigleisigen, elektrifizierten Bahnanschluss erhalten, auf dem dann, statt bisher 8, täglich 44-60 Güterzüge fahren sollen, die mitten durch Oldenburg und andere Orte fahren würden, was dort verständlicher Weise wegen des damit verbundenen Lärms erhebliche Proteste auslöst. Da der Hafen keine Verbindung zu den Binnenwasserstraßen hat, müssen Bahn und Lkws (ca. 1000 Lkws täglich) den Transport übernehmen. Wobei angeblich die Eisenbahn zusätzliche Probleme dadurch hat, dass der sandige und moorige Boden die Last langer Güterzüge kaum zu tragen vermag, was aufwendige Stabilisierung erfordert. Da die Bodenbeschaffenheit seit Jahrhunderten gleich blieb, hätte man das gründlich nachdenkend längst bemerken und berücksichtigen können.
    Ein Untersuchungsausschuss ergab, dass es Unregelmäßigkeiten gab, was bei einem Projekt, bei dem öffentliche Hand und Private (in diesem Fall eine Dänische Containerreederei, die mit 30% beteiligt ist) immer wieder vorkommt, wie man bei der Lkw-Maut und anderen Projekten  zu genügen lernen konnte. Da bei der Lkw-Maut die 17 000 Seiten Verträge geheim sind, hatten die Parlamentarier überhaupt keine Chance ihrer kontrollierenden Aufgabe nachzukommen.
    Ähnlich lief es bei vielen Cross-Border-Leasing-Geschäften, bei denen Gemeinden einen Teil ihrer Infrastruktur verkauften und sofort wieder zurück mieteten, weil sie so von den Firmen, die das anboten, zu Lasten des amerikanischen Steuerzahlers Geld erhielten. Auch wenn man die englischen Verträge nicht verstand, hätte man erkennen können, dass das unmoralisch ist. Ein Blick in die Gemeindeordnungen hätte außerdem geklärt, dass fremdsprachige Verträge, genau so wie spekulative Geldgeschäfte für Gemeinden unzulässig sind.
    Auch in diesen Fällen könnte es sein, dass Eile und Gier so groß waren, dass man sich nicht die nötige Zeit zum Nachdenken nahm. Selbstverständlich traten die Vermittler großspurig auf und machten bei manchem Gemeinderat großen Eindruck. Heute, da die Eigentumsverhältnisse z.B. in Stuttgart eine Straßenführung verhindern und erste Politiker (Pforzheim) verurteilt wurden, wäre man oft froh, wenn man sich nicht auf diese Geschäfte eingelassen hätte.
    Vielleicht sollte man in jedem Gemeinderat und Parlament den Merksatz vom Oldenburger Rathaus ( siehe Bild oben) anbringen:
 „Erst wäg‘s, dann wag‘s”.
    Das setzt nämlich voraus, dass man erst nachdenkt, versteht und dann handelt. Demokratie braucht eben Zeit. Wenn man ihr die nimmt, wird es gefährlich.
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Sprachliche Erklärung:
„Wäg‘s” kommt von abwägen, also vom Wort „wiegen”, wobei man früher auf der Balkenwaage stets ein Gleichgewicht zwischen der Ware und den geeichten Gewichten herstellen musste, um sagen zu können. wie viel die Ware wiegt. Auch das ist ein Vorgang, der Zeit braucht, weil die Waage sich auspendeln muss.