In Stuttgart finden zur Zeit jährlich etwa 1400 Demonstrationen statt, also fast vier am Tag. Darunter große, wie die am 20. September 2019 zum Schutz des Klimas, die etwas Besonderes war, weil sie weltweit an vielen Orten zugleich stattfand, oder jene im Bild oben am 1. Oktober 2010 als Zehntausende Stuttgart für den Erhalt ihres Parks und gegen seine Abholzung und gegen den Abriss großer Teiles des Bahnhofes auf die Straße, bzw. in den Park gingen. Aber diese seit Jahren wöchentliche Demonstration begann ganz klein mit vier Leuten am 26. Oktober 2009.
Schaut man ins Herkunftswörterbuch, dann bedeutet das dem Lateinischen entlehnte Wort „hinweisen, deutlich machen”. In der katholischen Kirche gibt es die Monstranz (um die geweihte Hostie bei eine Feier zu zeigen). In der Sprachlehre gibt es das Demonstrativpronomen (hinweisen Fürwort). Auch das Monstrum (ein Mahnzeichen) ist damit verwandt.
Auf was weist es nun hin, wenn in der Landeshauptstadt täglich mehrere Demonstrationen stattfinden? Zunächst einmal, dass das Bürgerrecht „seine politische Meinung offen kund zu tun” gilt. Dabei spielt sicher die Funktion der Stadt als Landeshauptstadt und als Regierungssitz eine Rolle, denn in vielen Fällen haben die Demonstranten politische Anliegen und reisen oft aus dem ganzen Land an.
Es gibt aber auch Demonstrationen, die den Passanten ein Thema näher bringen wollen, das nach Meinung der Demonstrierenden zu wenig Gehör findet, etwa das Elend, die Entrechtung in anderen Teilen der Erde, oder die Misshandlung von Tieren. Aber der größte Teil der Demonstrationen dürfte doch dem Ziel dienen politischen Themen Nachdruck zu verleihen.
1400 Demonstrationen, das bedeutet, dass das Mittel der Demonstration, für die die Teilnehmer ihre Lebenszeit einsetzen, so zugenommen hat, dass es dadurch zugleich entwertet wurde. Wer eine der Innenstadt-Buslinien benutzt und durch eine Demonstration behindert wird, weil der Bus warten muss, oder Umwege fährt, weiß oft nicht, wer da wofür oder wogegen demonstriert, will es vermutlich auch gar nicht wissen, ähnlich den Busfahrern, für die das nur ein Hindernis ist ihren Fahrplan einzuhalten und sie öfter auch noch ihre Pause kostet.
Andererseits zeigt die Fülle der Themen von Demonstrationen, dass offenbar viele Menschen meinen, dass die Politik sich um einige Themen zu wenig kümmert. Das kann egoistisch sein, wenn Autofahrer gegen strengere Grenzwerte für Luftschadstoffe demonstrieren, weil sie ihr altes Auto weiter fahren möchten. Es kann aber auch, wie bei den Demonstrationen zum Erhalt des Denkmalgeschützten Hauptbahnhofes und des ebenso unter Gartendenkmalschutz stehenden Parks, um Anliegen gehen, die dem Einzelnen weniger nützen, aber für die Allgemeinheit wichtig sind: Funktionierender Bahnhof, Erholung und Luftverbesserung durch den Park, von der Politik missachteter Denkmalschutz, der ja auch der Allgemeinheit und ihrer Identität dient.
1400 Demonstrationen sind aber auch ein Zeichen dafür, dass sich Bürger für ihre Interessen, aber auch für die Interessen der Allgemeinheit einsetzen, was man sicher als ein gutes Signal ansehen kann. Aber die Kehrseite ist eben, dass sich so viele Bürger mit ihren Anliegen von der Politik im Stich gelassen fühlen.
Es war deshalb klug, dass die Grünen nach ihrem Wahlsieg die Parole ausgaben, sie wollten eine „Politik des Gehört-werdens” machen. Das scheint aber die Zahl der Demonstrationen nicht gesenkt zu haben, was darauf hin weisen könnte, dass es ihnen noch nicht gelungen ist den Bürgern das Gefühl zu geben, dass sie bei den Regierenden ein offenes Ohr fänden.
Dabei muss man einräumen, dass es schwer ist täglich vier Anliegen aufzunehmen und anzuerkennen. Zudem sind es nicht immer die Vernünftigen, die am Lautesten schreien, so dass der Anschein entstehen kann, sie würden nicht ausreichend wahr genommen. Außerdem wird es Jahre dauern, bis eine Verwaltung, die es eher gewöhnt war, Vieles im kleinen Kreis unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu beschließen, lernt, dass nun Offenheit und Rechtfertigen durch Argumente, statt durch Verordnungen das Gebot der Stunde sind. Das wird auch durch jene Kreise erschwert, die es gewöhnt waren ihre Interessen ohne Einhaltung des Dienstweges oder demokratischer Prozeduren durchzusetzen.
Daher wird es wohl noch Jahre dauern, bis durch mehr Offenheit und mehr demokratische Teilhabe die Zahl der Demonstrationen wieder sinkt. Ob das geschieht, hängt aber auch davon ab, ob die Politik sich von der Wirtschaft emanzipiert und es schafft wieder die Rahmenbedingungen für das Zusammenleben zum Wohle Aller zu gestalten. Solange die Politik dem von der Wirtschaft dominierten Wandel hinterher läuft, statt ihn zu gestalten, blieben Demonstrationen eine Notwendigkeit.
Es wäre dennoch klug, wenn die Bürger die Zahl der Demonstrationen beschränken, oder auch andere Formen der politischen Meinungsäußerung nutzen, damit das Instrument Demonstration nicht durch übermäßigen Gebrauch stumpf wird.
Das Bild oben entstand im Stuttgarter Schlossgarten bei einer Demonstration gegen die Tieferlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofes für den die meisten im Bild sichtbaren Bäume fallen mussten, was den Park als Naherholungsgebiet zerstörte.
Das Bild zeigt auch, dass die Polizisten rechts - weit weg von der Abschrankung - wohl Angst haben, denn angesichts der Menschenmenge hätten sie wohl keine Chance ungeschoren davon zu kommen. Dass es zu solchen Szenen kam, bei denen die Polizei den Kopf hin halten muss, zeigt, dass die Politik im Vorfeld versagt hatte.