Wenn der Faden reißt
Eine bedenkliche, ja bedrohliche Entwicklung
Carl-Josef Kutzbach
Montag, 25. Januar 2021
 
Wenn der Faden reißt, kann das sehr unterschiedliche Folgen haben. Bei einem Nylonstrumpf gibt es eine Laufmasche, bei anderen Gestricken drohen Löcher, die immer größer werden.
Dasselbe gibt es auch beim Denken. Angeblich hat schon mein Großvater (1875 - 1942) davor gewarnt, dass es sehr schwierig werde, wenn man in Mathematik den Faden verliere. Mir selbst erging es bei einem Schulwechsel so, dass in der neuen Klasse bereits Algebra eingeführt war und in der alten Klasse nicht. Daher hinkte ich stets in Algebra hinterher, während ich in Geometrie gut war. Ähnliches kann auch beim Lernen von Sprachen geschehen, wenn man an einer wichtigen Stelle etwas nicht mit bekommt, etwa den Apostroph beim englischen Genitiv.
Manchmal trifft es aber auch große Gruppen der Bevölkerung, etwa um den ersten Weltkrieg, als die Armut so groß wurde, dass viele Leute nehmen mussten, was sie kriegen konnten und keine Wahl mehr hatten. Das führte dazu, dass das Wissen um die Qualität von Waren abnahm, denn es brachte keinen Nutzen mehr. Man hatte ja oft gar keine Wahl. Mein Vater scheint das bedacht zu haben, denn er hatte Bücher über die Verwendung der verschiedenen Holzarten für verschieden Zwecke, vor allem bei Möbeln.
Dabei war er von zuhause durchaus zur Qualität erzogen worden, da sein Vater, eben der erwähnte Großvater, Maschinenbau-Professor war und sich gründlich mit Material befasst hatte und zugleich ein kultiviertes Zuhause pflegte.
Ungefähr zeitgleich mit dem Verlust der Kenntnisse über die Qualität von Waren ging auch das Schaffen einer Aussteuer verloren. Ich habe noch ein paar Deckchen von meiner mütterlichen Großmutter, auf denen sie ihre Initialen als Mädchen eingestickt hat, MJ, für Magdalene Jähnicke.
Um 1920 kam etwas Neues hinzu, der geplante Verschleiß, den amerikanische Autofirmen einführten, damit ihre Autos nicht mehr so lange halten sollten und sie daher mehr Autos verkaufen konnten.
Rund um den zweiten Weltkrieg wurde es nicht besser, weil wieder Mangel herrschte. Danach achtete zwar, wer es konnte auf Qualität, aber das waren sehr wenige und denen wurde es schwer gemacht. Die Nylons (Nylonstrümpfe), die zunächst unverwüstlich erschienen, bekamen plötzlich ganz schnell Laufmaschen. Gerüchte meinen, man habe in den Nylonfaden Luftblasen eingebaut, durch die er reißen sollte. Beweise dafür gab es meines Wissens keine.
In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden Damenslips angeboten, die man nicht mehr waschen, sondern wegwerfen sollte, ich glaube für 50 Pfennige das Stück. Die Wegwerfgesellschaft zeigte einerseits, dass man es sich wieder leisten konnte, aber andererseits, dass das Wissen um Qualität und die Pflege von Gütern verloren ging. Die Folgen: Es dachte kaum  jemand an die Umwelt, als Einwegflaschen aus Glas und Plastik auf den Markt kamen. Es gab die Idee in den Küchenabfluss eine Art Fleischwolf einzubauen, sodass man viele Reste und Abfälle mit dem Wasser fortspülen können sollte. In Hochhäusern gab es Müllschlucker, damit man seinen Müll nicht mehr zum Mülleimer tragen musste.
Die Werbung blies in dasselbe Horn. Eine Schuhmarke warb damit, dass man die Schuhe nicht putzen müsse (vielleicht hielten sie nicht lang genug und waren maßlos überteuert?). Um 1970 gab es eine Abmachung der Werber, dass man Motorradfahrer nur mit Helm auf dem fahrende Motorrad abbilden würde, also mit ausreichender Schutzkleidung. Heute werden knapp bekleidete Frauen auf Motorrädern gezeigt, die weder einen Nierengurt, noch Helm oder Schutzkleidung tragen. Die Werbung prägt also falsche Vorstellungen, gibt falsche Vorbilder!
Diesmal war es nicht Armut, sondern Wohlstand, der zur Wegwerfgesellschaft und damit zum Verkümmern der Reste von Warenkunde führte. „Ex und Hopp“ wurde als Argument für Getränkedosen beworben. Wenn man aber keine Ahnung von der Qualität von Waren hat, kann man sich nur noch am Preis orientieren, was der Bequemlichkeit entgegen kommt, denn man muss nur noch Zahlen vergleichen. Damit macht aber derjenige das Geschäft, der am billigsten einkauft und das dann möglichst teuer verkauft, also den Kunden betrügt, statt ihm reinen Wein einzuschenken.
Das Ergebnis sieht man bei Schuhen, die zum Teil in drei Monaten ruiniert sind, die man oft nicht mal mehr Reparieren kann, weil sie von so schlechter Beschaffenheit sind. Manche Hersteller können nicht mal die eigenen Schuhe reparieren, weil sie keine Schuster mehr haben und erstatten lieber dem reklamierenden Kunden den Verkaufspreis.
Auch bei den Lebensmitteln grassiert die Unkenntnis. Tomaten und andere Früchte werden im Kühllaster angeliefert, obwohl sie das schlecht vertragen und dann schneller schlecht werden. Auch verpacktes Brot neigt durch die Kondensfeuchtigkeit, die sich bei den Temperatur-Wechseln zwischen Fabrik, Kühllaster und Laden ergeben, rascher zu schimmeln. Wenn aber schon die Läden und ihre Lieferanten nicht mehr wissen, wie man Lebensmittel richtig behandelt, woher soll es dann der jugendliche Kunde lernen, wenn er es nicht im Elternhaus gezeigt bekam? Kein Wunder, wenn Fertigprodukte eine Zusammensetzung haben, die der Gesundheit nicht dient, z.B. zu viel Salz, oder Zucker damit sie würziger schmecken. Wieder betrügen die Anbieter die Kunden und liefern schlechte Qualität zu unangemessenem Preis.
Wohin das geführt hat, sieht man in vielen Zeitungen, in denen Haushaltstips zu den beliebtesten und im Internet am häufigsten angeklickten Seiten gehören. Es ist im Wohlstand eine Generation heran gewachsen, die offenbar viele früher ganz selbstverständliche Dinge weder kennt noch kann.
Dass die Wegwerfgesellschaft die Umwelt und das Klima belastet, hat sich zwar herum gesprochen, aber wie soll man vernünftig handeln, wenn man nicht mehr weiß, wie?
 
Bildschirmfoto aus der Stuttgarter Zeitung.