Langsamer !
Carl-Josef Kutzbach
Sonntag, 31. Oktober 2021
 
Jeder Radfahrer weiß, dass er sich mehr anstrengen muss, wenn er – auf der Ebene - schneller fahren will. Man kann sagen: Je schneller etwas getan werden soll, desto mehr strengt es an, oder desto mehr Energie muss man hinein stecken. Das ist Physik und lässt sich nicht ändern.
Deshalb hat man vor vielen Jahren, als das Benzin knapp zu werden schien ( 1956 und 1973 ), Auto-freie Sonntage durchgeführt, an denen nur in Notfällen gefahren werden durfte. Wer ein Elektroauto fährt, bekommt anschaulich angezeigt, dass eine höhere Geschwindigkeit auch mehr Energie verbraucht und die Batterie schneller leert.
Daher wäre es klug, wenn man in vielen Lebenslagen die Geschwindigkeit verringert, um einerseits Energie zu sparen und damit das Klima zu schonen und andererseits, weil man bei einer geringeren Geschwindigkeit mehr Zeit hat Fehler zu vermeiden oder zu beheben.
Dass der Wunsch alles immer schneller zu tun fragwürdig ist, weil er mehr Energie braucht, zu mehr Fehlern führt, die schlimmere Folgen bei Unfällen haben, und obendrein die Menschen unter Druck setzt, sollte zu denken geben.
Das es auch langsamer ginge, kann man sich heute in vielen Bereichen kaum noch vorstellen. Am 18. Juli 1838 schrieb eine Vorfahrin an ihren Mann in Trier, von wo sie in zwei Tagen nach Sobernheim gefahren war ( leicht modernisiert ):
„Wir kamen, am ersten Tag, um 12 Uhr in Hermeskeil an, rasteten da bis 16 Uhr, und kamen - nachdem der Kutscher oft Vorspann nahm, um 23 Uhr in Birkenfeld an, logierten dort bei Bekannten und reisten heute Morgen halb 4 Uhr wieder ab. Das Pferd kam nicht weiter als Idar-Oberstein. Der Kutscher tauschte daher sein Pferd gegen ein Andres um, und so kamen wir gegen 16 Uhr in Kirn bei Schneiders an, wo wir uns bei der freundlichen Bewirtung und in kühlen Zimmern erholten. Gegen 18 Uhr fuhren wir ab und erreichten bei kühler Dämmerung um 20 Uhr Sobernheim.”
Von Trier nach Hermeskeil sind es 31; von dort nach Birkenfeld 19 Kilometer. Die Kutsche brauchte also für die 50 Kilometer mindestens zwölf Stunden ( eher mehr, da wir den Zeitpunkt der Abfahrt nicht kennen ), was nicht einmal Schrittgeschwindigkeit entspricht.
Von Birkenfeld bis Idar-Oberstein sind es 17; von dort bis Kirn weitere 17 und bis Sobernheim noch mal 16 Kilometer, also wieder 50 Kilometer für die sie 1838 mit der Kutsche fast 14 Stunden brauchten, wobei der Pferdewechsel wohl mit ein bis zwei Stunden Aufenthalt verbunden war, also vermutlich 12 Stunden reine Fahrzeit. Dabei dürften sie ab Idar-Oberstein im Tal der Nahe gefahren sein, also ohne allzu große Steigungen.
Ich schildere das so ausführlich, weil es uns fremd ist und weil es etwas über die damaligen Möglichkeiten vermittelt in der Zeit vor der Eisenbahn. Es war offenbar an vielen Orten möglich ein erschöpftes Pferd gegen ein Anderes einzutauschen. Und wo man übernachtete gab es Ställe, in denen das Pferd versorgt wurde. Man pflegte die Beziehungen zu Bekannten und Verwandten offenbar auch, um auf Reisen Rastmöglichkeiten zu haben.
Wenn man die Strecke in Openstreetmap eingibt, kommt man auf ca. 93 km mit verblüffenden 1450 m Höhenunterschieden ( rauf und runter ) , obwohl Trier und Sobernheim fast gleich hoch liegen, die aber wohl durch das Überwinden der Wasserscheide ( Mosel : Nahe ) zusammen kommen, falls man „mit dem Fahrrad“ eingibt, was wohl am ehesten der Kutsche entspräche. Zu Fuß sind es, weil man abkürzen kann, nur 88 km. Der Linien-Bus benötigt mit mehreren Zwischenhalten zweieinhalb Stunden.
Was 1838 im heißen Juli zwei lange Tagesreisen waren, ist heute mit dem Auto in zwei Stunden zu bewältigen. Allerdings benutzte man 1838 ein Pferd und gelegentlich ein Zweites als Vorspann, während heutige Autos Dutzende, wenn nicht 100e Pferdestärken haben und keinesfalls mit Wasser und Getreide zufrieden sind. Hier sieht man, wie viel mehr Energie für das schnellere Reisen nötig ist.
Daraus ergibt sich die Frage:
Muss man so viel und so schnell Reisen?
Die Wirtschaft meint, es sei nötig, dass ein Ingenieur an einem Tag zu einem 1500 km entfernten Kunden fliegt und am übernächsten Tag zurück. Mit der Bahn würden die 1500 km Fahrt jedes Mal ungefähr 36,5 bis 44 Stunden dauern, wären aber für die Umwelt viel besser.
Auch Leute, die Ferien machen wollen, fliegen an viele Orte, weil sie dann in wenigen Stunden dort sind, auch, wenn man mit dem Zug fahren könnte ( von Stuttgart nach London dauert – selbst, wenn man über Paris fährt - ungefähr 8,5 Stunden ). Da würde man eine Menge Landschaft, Orte und Flüsse sehen, was einem im Flieger meistens fehlt. Führe man, statt durch den Tunnel, mit einer Fähre, dauerte die Fahrt mit Übernachtung an Bord etwa einen Tag. Vor allem: Was machen die Leute mit der „gewonnenen” Zeit? Nutzen sie sie wirklich aus?
Die Beispiele zeigen, dass Reisen und „Transport” ein großer Unterschied sind.
Beim Transport steigt man irgend wo ein und wird vom Verkehrsmittel am Ziel wieder entlassen. Ob man unterwegs etwas sieht, oder ob man arbeitet, liest, schläft, Kreuzworträtsel macht, spielt keine Rolle. Reisen dagegen bedeutet, dass man sich mit dem Land, durch das man fährt, beschäftigt. Schon als Jugendlicher merkte ich bei meiner ersten Fahrt nach England, als wir im Rheinland waren, dass dort die Häuser anders aussehen. Meist haben die Fachwerkhäuser schwarze Balken, die oft auch dünner sind, als in Süddeutschland. Dort wo es Schiefer-Gestein gibt, sind die Dächer oft mit Schiefer gedeckt. Auch gemauerte oder verputzte Häuser sehen ein klein wenig anders aus, teils wegen der verfügbaren Rohstoffe ( Fachwerk gibt es in Gegenden mit Laubholz, Blockhäuser, wo es lange gerade Stämme, also Nadelholz gibt ), teils wegen der Baustile die sich jeweils am Ort entwickelt haben. Diese Hintergründe erkannte ich als Jugendlicher noch nicht, aber sie fielen mir beim aus dem Zugfenster Schauen auf.
Noch sehr viel mehr erlebte ich, bei einer vierwöchigen Fahrt mit dem Fahrrad von Garmisch-Partenkirchen nach Flensburg, denn ich hatte mich gründlich mit der Strecke und den Sehenswürdigkeiten beschäftigt.
Der Mann der Briefschreiberin stammte aus Danzig, war also über eine erhebliche Strecke quer durch viel Fürstentümer nach Trier gereist ( das, wie Danzig damals zu Preußen gehörte ). Auch das war möglich, aber eben nicht so schnell und wohl auch weniger bequem.
Allerdings heirateten die meisten Bürger über Jahrhunderte im Umkreis von etwa 70 Kilometern, also zwei Tagereisen. So konnte man sich noch besuchen und in Notfällen helfen.
Was würde denn geschehen, wenn wir versuchten langsamer zu reisen und Waren langsamer, also Energie-sparender zu versenden? Wenn man sich darauf einrichten kann, das heißt, wenn es nicht plötzlich notwendig wird, dann kann man Waren, die man ab und zu plötzlich brauchen könnte ( Verbandszeug, haltbare Lebensmittel, Ersatzteile ) lagern und Vorräte anlegen. Das war früher normal, wie man an den vielen Verfahren zum Haltbar-machen von Lebensmitteln ablesen kann, egal, ob Kompott einmachen, Marmelade und Gelee einkochen, Früchte trocknen, Kartoffeln einkellern, all das war ja notwendig, um bis zur nächsten Ernte etwas zu Essen zu haben. Ganz ähnlich ging man mit Textilien um, man spann, strickte, häkelte, kaufte Stoffe, um Kleider zu schneidern, oder Leder, um Gürtel, Taschen oder Schuhe machen zu lassen. Man lagerte Holz am Haus unter dem Vordach oder Kohlen im Keller.
Als mein Vater in China arbeitete, dauerte es eine Weile, bis das bestellte Grammophon samt den Platten mit dem Schiff nach China transportiert worden war. Heute bekommt man, wenn man dafür bezahlt, fast alles mit einem Flieger über Nacht angeliefert, was große Mengen Energie kostet, die Umwelt belastet und die Menschen in der Nähe von Flughäfen zum Teil um den Schlaf bringt. Das ist eine Form von Rücksichtslosigkeit, die vor allem der Geldgier geschuldet ist, denn man meint, dass der das Geschäft macht, der als Erster liefern kann. Hier wäre schon viel gewonnen, wenn die Preise für den schnelleren Transport um so höher wären, je mehr er die Umwelt und die Menschen belastet. Das ist aber leider nicht so, sondern um Konkurrenten auszustechen werden Preise verlangt, die nicht die Wahrheit sagen.
Natürlich müsste man sich umstellen und auf frischen Spargel und Erdbeeren an Weihnachten verzichten, oder auf Feigen, die aus Südafrika kommen und billiger sind, als einheimische Pflaumen, oder auf Äpfel aus Neuseeland. Das hätte zwei Folgen:
  1. Frische Früchte gäbe es nur in der Saison und dort, wo sie wachsen, oder eben in eingemachter Form.
  2. Zweitens würde man bei Reisen wieder Früchte und Speisen serviert bekommen, die nur dort wachsen. Wenn man heute durchs Land fährt, sieht man höchstens an den Bierreklamen der Wirtshäuser, dass man in eine andere Gegend gekommen ist, in der es vermutlich auch andere Speisen gäbe. Würde man langsamer reisen und unterwegs essen, würde die Reise auch geschmacklich ein ganz anderes Erlebnis, als im Flieger oder im Speisewagen aus der Mikrowellenküche.
Ich erinnere mich heute noch an einen niederländischen Speisewagen, in dem gekocht wurde und die Speisen vom Ober von einer silbernen Platte dem Gast auf den Teller gelegt wurden, obwohl ich damals ( ca. 1964 ) als Jugendlicher auf solche Dinge weniger achtete. Anderes Tempo kann eben auch zu anderen Erlebnissen und ungewohnten Genüssen führen.
Wer langsamer lebt, hat mehr davon und stellt sich der Wirtschaft in den Weg, die uns alle zu Hektik und Eile anzutreiben versucht. Gesünder ist es obendrein.
 
Das Bild oben zeigt zwei gegensätzliche Arten des Bewegens: Das mit einem Jet durch den Himmel rasen und die Fahrt in Ballonen, bei der man nur bedingt steuern kann, wohin man kommt.