Die Verkehrswege sind voll
Ist so viel Verkehr überhaupt sinnvoll?
Carl-Josef Kutzbach
Freitag, 9. November 2018
 
Ungefähr alle zwei Minuten schwebt abends ein Lichtpunkt in Richtung Stuttgarter Flughafen. Dabei fallen zur Zeit 60 Flüge täglich allein bei der Lufthansa aus. Knapp ein Viertel der Flüge am Stuttgarter Flughafen sind verspätet oder fallen aus. Bei der Bahn kommt jeder Vierte Fernzug nicht pünktlich an, oder fährt gar nicht. In Köln, Stuttgart und Karlsruhe, vergeudeten 2014 Autofahrer über 60 Stunden im Stau. Auf den rund 12 000 km Autobahnen ist es häufig nicht besser. Dabei haben sich viele Autobahnen von dem einst vierspurigen „Grauen Band“ das einst Kraftwerk besang, zu sechs- oder achtspurigen Schneisen entwickelt, die die Landschaft genau so zerschneiden, wie die Schnellfahrtrassen der Bahn. Beide werden häufig mit Zäunen und Lärmschutzwänden vor Menschen und Wild geschützt, oder ist es anders herum?
Umgekehrt werden die Menschen immer stärker vom Verkehr belastet: An den 16 internationalen deutschen Verkehrsflughäfen gab es 2017 knapp 216.000 Starts und Landungen in der Nacht. Das waren etwa 14.000 mehr als 2016. Das Nachtflugverbot schützt also immer seltener die Anlieger.
Aber die Bürger sorgen auch selbst kräftig für mehr Verkehr: Durch das Einkaufen im Internet, wächst der Versand von Paketen. 2017 wurden mehr als 3,3 Milliarden Sendungen bearbeitet, 6,1 Prozent mehr als 2016, wie der Bundesverband Paket und Expresslogistik mitteilte. Bis 2020 wird eine Zunahme auf 4,3 Milliarden Lieferungen erwartet.
In den 1970er Jahren meisterten 91 % der Schulkinder den Schulweg allein, oft zu Fuß, zum Teil mit Bus und Bahn. Heute sind es nur noch 17%. Dafür verursachen „Elterntaxis“ vor vielen Schulen gefährliche Situationen, weil sie es eilig haben, aber ihre Kind am Liebsten bis ins Klassenzimmer mit dem Auto brächten. Dabei spielt die Angst, dem Kind könne etwas geschehen eine Rolle, aber die Münchner Rück (Versicherung) fand in einer Studie, dass die Gefahr eines Unfalls im Auto für die Schüler höher ist, als wenn sie zu Fuß unterwegs sind.
Im Fernverkehr der Bahn waren 2017 142 Millionen Reisende unterwegs. Im Nahverkehr, der Teil auch von der Bahn oder von deren Konkurrenten betrieben wird, pendeln täglich weitere zig Millionen zwischen Zuhause und Schule, Lehre, Uni, oder Arbeitsplatz.
Pkws sind meist nur mit einer Person besetzt und stehen 23 Stunden am Tag herum. In der Stuttgarter Lenzhalde mit knapp 100 Hausnummern schuf man seit den 50er Jahren rund 130 Stellplätze in Vorgärten, oder Garagen, wodurch aber – wegen der Einfahrten – fast so viele Parkplätze am Straßenrand weg fielen. Nur bei Tiefgaragen ist die Bilanz besser.
Eigentlich sind die Verkehrswege schon längere Zeit voll, was nur durch den Bau von neuen Straßen, von Parkhäusern, von immer größeren Autobahnrastplätzen für Lkws und immer mehr Spuren auf der Autobahn verschleiert wurde. Aber neue Straßen führen auch zu mehr Verkehr. Neue Ausfallstraßen in Städten führen oft dazu, dass Leute weiter ins Grüne hinaus ziehen, das sie ja nun schneller erreichen können. Die Durchschnittsgeschwindigkeit in den Städten liegt seit über 100 Jahren bei etwa 15 km/h.
Durch Elektroroller und Elektrofahrräder wird heute der Kollaps noch ein wenig hinaus geschoben. Auch Navigationsgeräte und autonomes Fahren – so es denn mal funktioniert – können vielleicht die Auslastung der Straßen noch ein wenig steigern, aber der Verkehrskollaps kommt immer näher.
Auf manchen Wegen verdrängen längst Radler die Fußgänger. Etwa auf den ehemaligen Treidelpfaden an Flüssen hat man als Fußgänger an freien Tagen kaum eine ruhige Minute, weil verständlicher Weise auch die Radler diese Wege mit kaum merklicher Steigung gerne benutzen. Also klingelt es ständig und der Fußgänger soll alle paar Minuten den Radlern den Weg frei geben.
Ist so viel Verkehr überhaupt sinnvoll?
Tiere – Zugvögel scheinen eine Ausnahme zu bilden – machen ihr Revier nicht größer, als unbedingt nötig, denn weitere Wege kosten mehr Energie, bedeuten also, dass das Tier mehr Futter finden und fressen muss. Nur der Mensch hat offenbar das Bedürfnis sein Revier zu verlassen und zu reisen, erst raus aus Afrika und in die weite Welt, heute überall hin. Was will der Mensch in der Fremde? Was zwingt ihn zum Reisen, und was macht er freiwillig?
Urlaub“, das Wort kommt schon im Mittelalter vor und bedeutete die Erlaubnis sich aus dem Dienst zu entfernen. Seit dem Kaiserreich, also knapp 150 Jahren, gibt es für abhängig Beschäftigte die Möglichkeit Urlaub zu machen, aber in manchen Berufen, etwa bei Bauern, die täglich ihr Vieh versorgen müssen, ist es heute noch mit Urlaub nicht weit her. Heute meint Urlaub häufig Erholungs- oder Bildungsreisen. Vor allem Jüngere wollen etwas von der Welt sehen, was der „Grand Tour“ entsprechen kann, die früher bei Kindern aus „Gutem Hause“ zur Abrundung der Bildung üblich war.
Lässt man mal die Reisen zur Kur, oder zu Bildungszwecken weg, dann ist der Urlaub am Strand oder in Hotelkomplexen nicht unbedingt nötig, vor allem, wenn man bei der Arbeit krankmachende Nebenwirkungen vermeiden würde. Andererseits schadet es wohl kaum, wenn man in der Fremde sieht, dass man auch ganz anders leben und arbeiten kann, als man selbst es gewohnt ist. Auch das Erlernen fremder Sprachen und Kultur ist sicherlich kaum schädlich. Aber der Massentourismus, der eher eine Flucht aus dem Alltag ist, als die Sehnsucht sich in der Fremde auf ganz andersartige Menschen einzulassen, ist in seinem Ausmaß und in seinen Auswirkungen fragwürdig. Man muss nicht eben mal zum Einkaufen übers Wochenende nach London, Paris oder Rom fliegen.
Fernreisen fanden vor der Zeit des fliegenden, oder autofahrenden Massentourismus mit der Bahn und dem Schiff statt und davor mit Kutsche und Pferd, oder zu Fuß (Wander- und Lehr-Jahre). Das war anstrengender und vermutlich auch teurer, also für weniger Menschen machbar. Aber es wäre reizvoll mal den Anteil derer heraus zu finden, die früher weite Reisen unternahmen. Vielleicht waren es nicht mal so wenige, denn sogar in der Steinzeit gab es Fernhandel und Frauen und Männer, die halb Europa durchquerten.
Dienstreisen kann man in zwei Gruppen aufteilen:
  1. Eine, die Waren begleitet, als Lkw-Fahrer transportiert, als Pilot oder Lokführer Anderen dient. Auch Monteure (Fachleute) gehören eher in diese Gruppe.
  2. Reisen, bei denen es um die persönliche Begegnung geht, sei es, als Zeuge, als Lehrer, als Vertreter und um Verträge auszuhandeln oder Wissen auszutauschen, wobei eben das persönliche Kennenlernen und Erleben wichtig scheint, um Vertrauen aufzubauen.
Der Warentransport auf dem Wasser, oder mit Kärren und später der Bahn versuchte durch möglichst große Transportmengen je Fuhre die Zahl der Schiffer, Kutscher und Lokführer gering zu halten, also den Transport möglichst preisgünstig zu gestalten. Erst als mit dem Lkw die Möglichkeit entstand von Haus zu Haus zu fahren, was natürlich viel teuerer war, vor allem, wenn er leer zurück fahren musste, kam die Zeit als Kostenfaktor ins Spiel.
Als dann die Firmen dazu übergingen ihre Waren- und Rohmateriallager auf die Straße zu verlegen (just in time), musste die Allgemeinheit die Nebenwirkungen ausbaden (Lärm, verstopfte Straßen, Abgase, Straßen- und Rastplätzebau). Zugleich wurden Güterbahnhöfe geschlossen und Industriegleise zu Fabriken abgebaut. Offenbar war man bereit den höheren Energieaufwand und die höheren Personalkosten beim Lkw zu bezahlen (mittlerweile wurden viele ehemalige angestellte Lkw-Fahrer zwangsweise zu Selbständigen gemacht, die den Lkw kaufen und fahren müssen), wenn die Güter schneller beim Kunden ankamen.
Dass dabei die Menschen und die Umwelt mehr belastet werden, spielte keine Rolle. Eine andere Verteilung auf Schiffe und Bahnen wäre aber möglich und würde vermutlich stattfinden, sobald die Kosten für die Belastung von Umwelt und Mitbürgern den Verursachern in Rechnung gestellt würde. Zumal die Unterhaltung der Infrastruktur von Kanälen und Bahnstrecken bei besserer Nutzung noch günstiger würden, zumindest je transportierter Tonne Güter und je Kilometer.
Wenig bedacht wird, dass man um so weniger Güter produzieren muss, je langlebiger diese sind. Deshalb wäre eine Abkehr von der Wegwerfgesellschaft ebenfalls ein Weg, um eigentlich unnötigen Verkehr zu vermeiden. In der Regel lässt sich aber der Kunde übertölpeln und kauft bei einem als billig bekannten Möbelhaus Kiefernmöbel, die in der Oberrheinischen Tiefebene aufwuchsen, dann in einem ostasiatischen Billiglohnland zu Möbeln verarbeitet wurden und nun wieder hier in Deutschland als superbilliges Angebot angepriesen werden, obwohl sie fast einmal um die Welt gereist sind. Der Kunde ahnt meist nicht einmal, dass Kiefern Weichholz sind und schon daher weniger lange halten werden, als die schwereren Möbel der Eltern aus Nussbaum oder gar Eiche.
Es gäbe also viele Möglichkeiten Verkehr zu vermeiden, weil er in diesem Maße überhaupt nicht nötig ist. Der Autor lebt seit drei Jahrzehnten ohne eigenes Auto und brauchte nur drei Mal einen Leihwagen, um Transportaufgaben zu lösen (einmal ein Umzug, zwei Mal ein Ziel, zu dem kein öffentliches Verkehrsmittel führte). Das ist allerdings nicht überall möglich, sondern nur dort, wo es entsprechende Angebote gibt. Es geht auch nicht darum irgend ein Verkehrsmittel zu verteufeln, sondern die Aufgabe ist schwieriger, nämlich zu erkennen, wann Verkehr wirklich notwendig ist und dann welches Verkehrsmittel dafür am besten geeignet ist.