Nachruf auf einen Füllfederhalter
Carl-Josef Kutzbach
Samstag, 14. Juli 2018
 
Da liegst Du nun, mit leerem Tintentank, der goldenen Feder und dem feinen, silbrigen Stift, der Deinen Kolben mit dem drehbaren äußeren Griff seit einer Reparatur verbindet. Doch die Dichtung Deines Kolbens ist nicht mehr dicht. Dein eleganter, schwarz – grüner Schaft mit der schwarzen Griffmulde und der dunkelbraunen, an Leder erinnernden, Kappe, samt dem goldenen Clip zum Festhalten in Hemd oder Jackett sehen immer noch elegant aus, wenn auch in der kurzen, etwas eckigen Form ein wenig antiquiert. Aber Du bist ja auch über 80 Jahre alt und hast meinen Vater und seit fast 40 Jahren auch mir gut gedient.
Ich vermute, dass Du neu auf dem Markt war, als mein Vater dich 1931 bekam, vielleicht selbst kaufte, oder von seinem Vater, dem Maschinenbauprofessor und Patriarch als Geschenk, ehe mein Vater beruflich nach China reiste. Du hast ihm wohl samt einem Bleistift, der zu Dir passte und ebenfalls von „Pelikan” stammte, auf der Fahrt mit der transsibirischen Eisenbahn nach Harbin in Nordchina begleitet, wo er im Winter bei - 42° filmte, wie Gläubige ein Kreuz ins Eis des Flusses schlugen und dann dort ins Wasser sprangen. Er erzählte, man habe sie mit Ruten geschlagen, damit sie nicht erfrören, wenn sie aus dem Wasser kamen. Er selbst hätte sich fast die Finger und die Nase abgefroren und sei zum Aufwärmen in ein Lokal eingekehrt, wo er einen Hummer verspeiste. Er erzählte auch, dass dort jeder die Gesichter der anderen angeschaut, und beim kleinsten Anzeichen von Erfrierungen (weiß werden) diese ungefragt mit Schnee eingerieben habe.
Wahrscheinlich stecktest Du damals in der Brusttasche des Jacketts über dem ein dicker, Fell-gefütterter Mantel und eine typische Russenmütze die Kälte abhielten. Den 10 Kilo schweren Mantel samt Mütze und Fellhandschuhen mit langen Stulpen am Arm habe ich später noch selbst getragen als Jugendlicher, der mit dieser Ausrüstung sicher auch auffallen wollte, vor allem wenn ich rote Cord-Hosen dazu trug. Später zog mein Vater in wärmere Gegenden, Hong Kong, Hankow, heute Wusung und Tientsin.
Als mein Vater 1938, zum 2. Mal nach China reiste, schrieb er mit Dir in seinen kleinen Kalender (vermutlich auch die früheren). Er hatte Heimaturlaub gehabt, bei dem er seinen Vater zum letzten Mal sah, und fuhr nun, aber nicht nur mit dem Zug, sondern mit dem von Dresden nur bis Genua und dann per Schiff nach Shanghai, wo wohl der Krieg ausbrach und dann nach Tientsin.
Hättest Du aus Vaters Brusttasche hinaus sehen können, hättest du die Welt gesehen: Genua, Port Said, den Sueskanal, dem indischen Ozean, Colombo, Singapur, die Kriegsschiffe auf der Rede vor Shanghai und all die Damen, die mein Vater mit seinem Charme beglückte.
Im Herbst 1938 fuhr er wohl mit Dir im ersten eigenen Auto, das er wohl mit Deiner Unterschrift bestellt und den Scheck ebenfalls mit Dir ausgestellt hatte.
Später als er sein Haus bezog, dürftest Du wohl beim Planen, beim Kauf und bei der Einrichtung oft beteiligt gewesen sein. Auch beim Erwerb von Antiquitäten dürfte Vater Dich und das Scheckbuch benutzt haben.
Wie viele Briefe an verehrte Frauen und an die Familie zuhause hast Du mit verfasst. Ob Du Vorlieben hattest und sich Deine spitze, feine Feder manchmal sträubte?
Ob Du nach der Walpurgisnacht, in der Vater meiner Mutter im deutschen Club „entdeckte”, oder umgekehrt sie ihn, ahntest, dass die Beiden ein Paar würden?
Als sie dann als „Displaced Persons“ mit 50 kg Gepäck China verlassen mussten und auf der Marine Robin, einem Truppentransporter nach Bremerhaven verschifft wurden und von dort in einem Viehwaggon nach Ludwigsburg fuhren, warst Du wohl eines von den wenigen Dingen, das ihn begleitete, denn Haus und Auto waren längst in andere Hände übergegangen. Aber Du bliebst als treuer Begleiter eine Art Freund meines Vaters.
Wann ich Dich wahrgenommen habe, weiß ich nicht mehr. Ich glaube Vaters Vierfarbstift mit den verschiedenen, farbigen Minen faszinierte mich als Kind mehr, als ein Füller, den zu benutzen ich erst später in der 2. Grundschulklasse lernen würde.
Aber als mein Vater starb bot mir meine Mutter an Dich, den Bleistift und den 4 Farbstift zu übernehmen. Bei mir landetest Du damals im grauen, kratzigen Harris-Tweed-Jackett, das ich zu dunklen Cordhosen, Wildleder-Stiefeletten und schwarzem Rollkragenpullover trug.
Bei einem Fest fielst Du mir aus der Hand und stakst mit der Feder im Parkett. Aber du schriebst tapfer weiter, als sei nichts geschehen. Dein treuer Begleiter, der feine Bleistift, kam mir abhanden, als ich ihn einem Journalisten auslieh, der zur Pressekonferenz anlässlich der Eröffnung der Diskothek „Perkins Park” in Stuttgart ohne Schreibzeug gekommen war. Dieses wenig professionelle Verhalten hätte mich stutzig machen sollen, aber ich war zu gutmütig, und weg war der treue Gefährte.
Jahre später bekam ich Ersatz von Pelikan, die eine Zeit lang solche Bleistifte nicht mehr im Angebot hatten. Von der Firma erfuhr ich jüngst, dass Du und Deinesgleichen von 1931-1944 verkauft wurden.
Was ich alles mit dir geschrieben habe, weiß ich schon nicht mehr. Aber je länger ich mit Dir  schrieb und mit einem jüngeren Bruder mit breiterer Feder, den meine Mutter im Jung-Verlag bekam, für den sie mal arbeitete, desto besser wurde meine Handschrift und umso lesbarer. Also verdankt mein Vater, aber auch ich Dir viel. Und alle, die unsere Texte lasen und lesen werden. Dankeschön! Ruhe nun sanft und in Frieden.