Die Mulde
Was von einem Leben übrig bleibt
Carl-Josef Kutzbach
Sonntag, 6. Juni 2021
 
Die alte rundliche Frau, die mich manchmal scheu, aber freundlich grüßte, mit dem grauen Haar, das ähnlich einem Pagenschnitt ihr Gesicht einrahmte, ist gestorben. Vielleicht war sie einsam und freute sich über jede Gelegenheit zum Grüßen und hoffte darauf ein paar Worte zu wechseln.
Dass sie gestorben war, merkte ich, als ein Möbelwagen vor dem Haus halb auf dem Gehweg parkte und daneben eine Mulde mit den Besitztümern gefüllt wurde, die niemand mehr haben wollte. Da wurde mir klar, dass Dinge auch davon leben, dass ein Mensch lebt und diese Dinge gebraucht und schätzt. Wenn diese Mensch stirbt, verlieren die Dinge ihre Beziehung zu diesem Menschen und das kann heißen, dass sie ihren Sinn verlieren, ja sogar ihren Wert, wenn sie niemand mehr haben und benutzen möchte.
Deshalb gehe ich manchmal auf Flohmärkte, weil all die Dinge, die man dort sieht, eine Geschichte erzählen. Meist fängt sie damit an, dass etwas erdacht und hergestellt wird, dass man zu dieser Zeit als Errungenschaft, als Fortschritt betrachtet. Aber irgend wann wird es dann von andren neuen Errungenschaften in den Schatten gestellt, wird weniger gebraucht, landet in einem Keller oder Abstellraum, ehe es den Weg zum Flohmarkt findet. Dort trifft es auf viele andere Gegenstände mit denen es ein ähnliches Schicksal verbindet. Wer ein wenig Phantasie hat, kann sich unzählige Geschichten erzählen lassen, mal von kleinen Leuten, mal von Reichen, deren einstiger Stolz nun für kleines Geld verhökert wird.
Was war den in der Mulde drin, die den unerwünschten Nachlass der alten Frau darstellte? Als Letztes oben drauf wurde ein Bettsofa geworfen, das lange neben de Mulde stand. sogar große Zimmerpflanzen ( grüne Aloe Vera ) und eine Vertrocknete, landeten in der Mulde, aber auch eine Weinkiste, ein Korb, in dem vielleicht mal ein großer Hund schlief, Bündel von Textilien, vermutlich Vorhänge, aufgerollte Teppiche, zusammen gerolltes Linoleum, eine sehr große Plastikschüssel ( zum Baden? ), alte Teppichklopfer aus Rohr geflochten, ein Fächerbesen zum Laub rechen, ein Tablett mit Henkel aus Korbgeflecht, Wäschekörbe, einer aus Plastik, einer aus geflochtenem Rohr, Umzugskisten und Karton, wohl mit Kleinigkeiten gefüllt, ein gefüllter Bettüberzug (mit Bettzeug? ), ein metallener Korb zum Abtropfen von Geschirr. Was weiter unten in der tiefen Mulde lag, war nicht mehr zu sehen.
Es wundert wenig, wenn die nächste Generation nicht alles übernehmen will, vor allem, wenn alte Leute sich schon länger nichts Neues (Modernes) mehr geleistet haben, weil die Rente knapp ist. Dann sind die Sachen oft nicht mehr schön. Man will auch nicht unbedingt die Kleider der Verstorbenen auftragen, wie es früher die Not gebot. Hinzu kommt im doch recht weit verbreiten Wohlstand, dass man sich lieber Neues, Schickes leistet, auch, wenn die alten Sachen hie und da eine wesentlich bessere Qualität haben. Aber wer erkennt die noch?
Manche Sachen, wie etwa ein Fotolabor, sind von der technischen Entwicklung überholt worden und niemand fängt mehr damit etwas an. Aber wenn geschreinerte Möbel weg geworfen werden und nicht nur billiges Zeug aus einem Möbelhaus auf der grünen Wiese, deren Schrauben ein häufigeres Auseinandernehmen und Zusammenbauen nicht überstehen, dann wird es fragwürdig. Manche Leute ersparen sich die Schrauberei und stellen ihre alten Möbel bei einem Umzug einfach zum Sperrmüll und kaufen sich neue. Man hat‘s ja.
Bei der alten Frau sah man dem Bettsofa an, dass es lange Jahre gute Dienste geleistet haben musste. Es war nicht mehr modern und vermutlich auch durchgesessen, oder durchgelegen und der Bezug verriet, dass es aus einer ganz anderen Zeit entstammte. Ob es ihr Gästebett gewesen war, oder ob sie darauf Ferngesehen hatte?
Ob weiter unten oder in den Kartons Bücher waren, Akten, Liebesbriefe, Fotos, Bilder, Erinnerungen, ob ein Geschirr dort lag, oder die Kleidung der Frau, das verbarg die Mulde gnädig. Schon so war mir der Anblick peinlich, all diese Habseligkeiten der Frau aus dem Haus ins helle Licht der Straße geholt, wo sie ohne Ordnung und Zweck am falschen Fleck zu sein schienen. Ich erinnere mich, wie ich bei einem Umzug einen Teil meiner Habe und damit auch meiner Geschichte auf den Sperrmüll stellte und sie mir schon dort schäbiger erschienen, als zuvor in der Wohnung. Die Geschichte der Frau war von den Hinterbliebenen sortiert und zum Teil in die Mulde geworfen worden. Sie interessierte nicht mehr. Der Tod als Schlusspunkt eines Lebens schreibt auch den Schlusspunkt der Geschichte dieses Lebens und seines Besitzes, wenn niemand mehr da ist, der sich an diese Geschichte erinnert, sie am Leben erhält.
Es ist verblüffend, dass sowohl der Körper, als auch die Habe den Tod überstehen und kein Atom davon verloren geht, aber die Geschichte eines Menschen, sein Wesen, seine Güte, seine Wärme und seine Liebe, die gehen beim Tod verloren, spätestens, wenn sich niemand mehr an diesen Menschen erinnert. Was in der Mulde landete, weil es nicht mehr gebraucht wurde, das wird selbst, falls es verbrannt wird, nicht verschwinden, nur das, was den Menschen ausmachte, ihn liebenswert oder achtenswert machte, das verschwindet mit dem Leben beim Tod.
Wenn ich mir überlege, was von mir bleiben wird und was verschwinden wird, je nachdem, was die Kinder damit anfangen, dann weiss ich schon heute, dass sie eine Mulde brauchen werden, egal ob für die Bücher, meine Texte, einen Teil meiner Möbel, viele Kleidungsstücke, aber auch Manches, was ich schon geerbt habe und nicht wegwerfen mochte. Tausende von Fotos, viele Geräte, die man nicht mehr kennt (Plattenspieler, Diaprojektor, Tonbandgerät, analoge Fotoapparate, Fotolabor, Fototrockner ) oder benutzen mag, oder die durch lange Zeiten ohne Benutzung kaputt gingen. Auch für einen Teil meiner Blumen sehe ich keine Zukunft. Erst recht nicht für alte Rechner und ihre Inhalte. Einiges ( Antiquitäten ) könnte im Museum landen, wenn jemand ihren Wert erkennt und sich die Mühe macht. Ich habe ja beim Tod meiner Mutter gesehen, wie Vieles ich weggeben musste, um die Wohnung leer zu bekommen. Wie leer und fremd die Wohnung in leerem Zustand wirkte! Wer stirbt kann sich gar nicht von Allem verabschieden, was einem wohl Einiges erspart. Andererseits ist das Alter oft ein langer Abschied von lauter Dingen und Tätigkeiten, die einem mal sehr wichtig waren. Auch der verläuft oft schleichend und ohne, dass es einem bewusst wird, dass man etwas zum letzten Mal getan hat, besuchte, anschaute oder genoss. Man weiß es ja nicht, bis man stirbt. Und dann ist es zu spät.
Wenn die Mulde erzählen konnte, was alles an ehemals Wichtigem, an Hoffnungen, an Vertrautem in ihr den Weg zur Resteverwertung antritt, es könnte ein Requiem der Dinge werden, oder manchmal vielleicht auch eine Erlösung von einem Dienst, der schon lange keine Freude mehr machte, sei es, weil der Mensch dahin siechte, oder die Dinge nicht mehr so schätzte, wie zu dem Zeitpunkt, als sie neu in seine Wohnung kamen. Wer weiß, wie die Dinge den Menschen sehen, der ihnen zuvor Achtung, Zuwendung, Pflege und Bedeutung gab. Mit der Mulde verschwindet auch die Ordnung, in der sie früher standen, dienten und wirkten. Aber sie existieren weiter, wenn auch in verwandelter Form ( Verbrennung ) oder in neuer Nutzung durch jemand, der sie noch brauchen kann. Nur der Mensch, der ihnen eine Ordnung gab und sie schätzte, der ist weg.