S21 zeigt weshalb sich Leute von den Volksparteien abwenden
Carl-Josef Kutzbach
Montag, 15. Oktober 2018
 
Dass beim Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofes zum Tiefbahnhof (kurz S21) von Anfang an die Bürger ausgeschlossen wurden, kritisierte Frederike Groß schon am 16. März 1996 mit einer Karikatur in der Stuttgarter Zeitung unter der stand:
„Wie schön, ein Visionär zu sein,
im ruhigen stillen Kämmerlein.
Doch könnt es nützen manchem Plan,
ließ man auch mal den Bürger ran.“
Die Karikatur zeigte den Eingang zu einem Raum in dem getuschelt und gemauschelt wird. Darüber steht „Stuttgart 21, Planungskomitee“. Neben dem Teppich, der wie bei einem vornehmen Hotel auf den Gehweg davor führt, steht ein Türsteher in Livree und weist eine Bürgerin mit einer Mappe voller Ideen und Vorschläge, sowie einen Bürger mit Fragen und Bedenken auf ein Plakat hin, auf dem die beiden zu sehen sind und das auf Hunde anspielend steht: „Wir müssen leider draußen bleiben.“ Über der Karikatur steht „Geschlossene Gesellschaft“.
Die Redaktionen der damals noch zwei Stuttgarter Blätter waren weniger weitsichtig. Ihre Aufgabe wäre es gewesen die Pläne zu analysieren und die Schwachstellen aufzuzeigen. Gewiss bei diesem riesigen Projekt eine enorme Arbeit! Aber wer, wenn nicht routinierte Rechercheure und Journalisten hätten denn sonst das Projekt kritisch auf seine Vor- und Nachteile untersuchen sollen? Statt dessen gab die Stuttgarter Zeitung die Parole aus, dass man für das Projekt sei und dementsprechend berichten werde. Wächteramt der Medien? Funktion der Medien für die Demokratie? Der letzte Journalist der Stuttgarter Zeitung, der den Wächterpreis erhielt, wurde später (aber schon vor vielen Jahren) Sprecher einer Landesbehörde.
So mussten sich die Stuttgarter selbst auf die Suche nach der Wahrheit machen. Denn dass es da nicht mit rechten Dingen zuging wurde um so deutlicher, je länger das Projekt betrieben lief, bis es schließlich vom einzigen Bahnchef, der nicht von Daimler kam, wegen Unwirtschaftlichkeit gestoppt wurde. Es musste ja auch Laien skeptisch machen, wenn es erst hieß, dass der Umbau durch die frei werdenden Gleisflächen und deren Verkauf finanziert werde, und es dann plötzlich doch 2, dann 3, schließlich inklusive Sicherheitszuschlag 4,5 Milliarden Euro wurden, die angeblich die Grenze der Wirtschaftlichkeit darstellen sollten.
Hier haben wir bereits alle Zutaten, die das Vertrauen des Bürgers in die Politik und die Medien ruinieren. Erst wird der Bürger ausgeschlossen und dann wundert man sich, dass er misstraut:
  1. 1.Ein fragwürdiges, unüberschaubares Großprojekt, bei dem der Bürger daran gehindert wird sich selbst eine Meinung zu bilden, Fragen zu stellen und darüber abzustimmen.
  2. 2.Medien (hier vor allem die Lokalpresse), die ihr Wächteramt vernachlässigen, sondern sich – ohne dass das den Lesern des Blattes mitgeteilt wurde – zum Fürsprecher einer Sache machen. Grundsätzlich dürfen Medien als Tendenzbetriebe für oder gegen etwas sein. Der Reutlinger Generalanzeiger hatte mal das Motto: „Wehrbejahend, Arbeitnehmer- und Bauern-freundlich“. - Die Öffentlich Rechtlichen Sender dagegen dürfen so etwas nicht. Sie sind zu weitgehender Neutralität und Objektivität (soweit das machbar ist) verpflichtet.
  3. 3.Politiker, die ihre Interessen über das Allgemeinwohl stellen und gar nicht prüfen, ob das, was vorgeschlagen wird, vernünftig, sinnvoll und realisierbar ist zu Kosten, die sie vertreten könnten. Um das bereits gestoppte Projekt wieder zu beleben, bot das Land Baden-Württemberg (um von Ministerpräsident Oettingers misslungener Filbinger-Rede abzulenken) und die Stadt Stuttgart (Oberbürgermeister Schuster, ebenfalls CDU) der Bahn Geld. Leider ist anzunehmen, dass alle Abgeordneten und Gemeinderäte, die dafür stimmten, ihre Hausaufgaben nicht erledigt haben. Da der Abgeordnete eigentlich nur seinem Gewissen folgen sollte, hätte sich jede und jeder durch die Pläne des Großprojektes quälen müssen, bei Unklarheiten nachfragen und dann erst abstimmen dürfen. Da das Projekt so riesig ist (allein 60 km Tunnels), ist das von einem allein kaum zu schaffen. Das heißt aber, dass über etwas abgestimmt wurde, das der Einzelne gar nicht in seinen Konsequenzen überblicken konnte. Die meisten Befürworter dürften sich die Mühe gespart haben und wie der Fraktionsvorsitzende gestimmt haben, in der Hoffnung, dass der schon wisse, was er tut. Oder es gab gleich Fraktionszwang, der das Gewissen zwar ausschaltet, aber offenbar ungemein beruhigt.
  4. 4.Ein (oder mehrere) Unternehmen, dass es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt und dessen Besitzer sie auch gar nicht wissen will. Der Bundesrechnungshof (der früh die viel höheren Kosten erkannte) ermahnte jetzt wieder den Bund als Eigentümer der Bahn diese stärker zu kontrollieren. Die Bahn wurde für die Privatisierung von etwa 16 Milliarden Schulden befreit und hat heute wieder annähernd 20 Milliarden neue Schulden. Aber der Bund weigert sich standhaft dem Unternehmen auf die Finger zu sehen. Statt dessen versorgt man dort Leute, die einen neuen Posten brauchen (Pofalla). - Die Privatisierung hatte noch eine zweite Nebenwirkung, nämlich, dass die Bahn gegenüber Medien nicht mehr auskunftspflichtig ist, wie es bei einer Behörde der Behördenleiter. Damit wurde für einen der größten Arbeitgeber und Betriebe die Kontrolle durch die Medien weitgehend abgeschafft. Wenn dann noch die Leistung des Unternehmens, auf das viele Bürger täglich angewiesen sind, immer schlechter wird (Nicht mal mehr jeder Vierte Zug ist pünktlich!), dann merkt auch ein gutmütiger Bürger, dass er zum Opfer der Leistungsverweigerung von Medien, Politik und Unternehmen oder Wirtschaft geworden ist.
Aber wem soll er denn dann noch vertrauen? Es waren ja die großen Parteien, die in der Privatisierung ein Allheilmittel sahen, die in Gemeinden (rechtlich unzulässige) Cross-Border-Leasing-Verträge schlossen, oder wie bei Toll-Collect 17 000 Seiten Geheimverträge absegneten, die jeglicher demokratischen Kontrolle entzogen sind. Es ist die Privatisierung, die verhindert, dass es auf dem flachen Land ein schnelles Internet gibt. Die Bundespost als monopolistische Behörde musste jeden überall im Land anschließen, ob es sich lohnte, oder nicht. Die Telekom als Privatfirma baut nur dort aus, wo es sich auch lohnt. Dass die gesamte Branche bei den Autoabgasen betrogen hat, indem sie mit Tricks unrealistisch niedrige Werte ermittelte, zeigt wie weit verbreitet heute die Leistungsverweigerung gegenüber Kunden und Bürgern geht. Und da wundert sich noch jemand über Politikverdrossenheit und Medienschelte?
Die Bürger verstehen vielleicht nicht ganz genau, was da gespielt wird, aber sie spüren, dass das nicht die Demokratie ist, die man nach dem 3. Reich als Erlösung von der Diktatur empfand. Und man spürt, dass ein „Weiter so!“ ziemlich sicher zu einer Katastrophe führen wird, egal, ob man an das Klima denkt, oder an die Ausbeutung ärmerer Länder und Menschen, oder im Zusammenleben, denn Vertrauen ist ein Grundvoraussetzung für eine gelingende Gemeinschaft und ein erfolgreiches Zusammenarbeiten zum Nutzen aller.
Dabei wollen die meisten Bürger gar nicht viel: Sie wollen leben, etwas Vernünftiges arbeiten und dafür einen gerechten Lohn erhalten, mit dem sie sich oder ihrer Familie ein wenig mehr, als nur das Notwendige gönnen können. Dazu braucht es eine funktionierende Infrastruktur und Politiker, Medien und Firmen, denen man vertrauen kann.
Statt dessen verkommt die Infrastruktur und man kann sich – so empfinden es Viele – auf niemand mehr verlassen, weder auf die Bahn, auf Politiker, auf Medien, noch auf die Wirtschaft. Das macht Angst und viele ziehen sich ins Private zurück, oder wenden sich irgend welchen Heilslehren zu, die zumindest ein besseres Gefühl versprechen.
Man könnte vermutlich behaupten, dass es den Politikern weitgehend gelungen ist, das Ansehen der Politik zu ruinieren, und die Medien spielen mit, statt Alarm auszulösen.
Sollte Stuttgart eines Tages den Tiefbahnhof bekommen, der vermutlich über 10 Milliarden kosten wird, dann ist mit diesem Projekt (und ähnlichen Anderen, etwa Berliner Flughafen) so viel Vertrauen zerstört worden, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie da noch ein gedeihliches Miteinander gelingen soll. Das werde ich vermutlich nicht erleben, aber die Beschädigung der Gesellschaft durch Zerstörung des Vertrauens, die spüre ich und das macht mir heute schon Sorgen.
 
Oben: Werbung für eine Stadt für alle und gegen S21 von 2007